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Plötzlich sehe ich seinen Leichnam vor mir, den Sarg, in den sie ihn gelegt, das so fremde Grab, in das sie ihn gebettet haben müssen. Und nun erkenne ich, daß der Kassierer des Tabakladens, mit seinem schiefsitzenden Jackett, in gewisser Weise die gesamte Menschheit war.

Ein Gedankenblitz nur. Doch ist mir hier und heute klar, als Mensch, der ich bin, daß er gestorben ist. Und das ist alles.

Jawohl, die anderen existieren nicht … Nur für mich verweilt dieser flügelschwere Sonnenuntergang mit seinen trüben, harten Farben. Nur für mich flirrt, ohne daß ich ihn fließen sehe, der große Fluß in der untergehenden Sonne. Nur für mich wurde dieser große Platz am Fluß geschaffen, dessen Wasser jetzt steigt. Hat man den Kassierer des Tabakladens heute im Massengrab beigesetzt? Der heutige Sonnenuntergang ist nicht für ihn. Doch da ich dies denke, hat er auch für mich, ohne daß ich es wollte, aufgehört zu sein …

318

… Schiffe, die in der Nacht vorüberziehen und sich weder grüßen noch kennen.

319

Ich erkenne heute, daß ich gescheitert bin, nur wundere ich mich bisweilen, daß ich mein Scheitern nicht vorhergesehen habe. Was in mir hätte einen Sieg vorhersagen können? Ich hatte weder die blinde Kraft der Sieger noch den sicheren Blick der Verrückten … Ich war klar und traurig wie ein kalter Tag.

Klar umrissene Dinge sind tröstlich, und durchsonnte Dinge sind tröstlich. Das Leben unter einem blauen Himmel vorbeiziehen zu sehen entschädigt mich für vieles. Ich vergesse ohne Ende, ich vergesse mehr, als ich erinnern könnte. Mein durchscheinendes, ätherisches Herz ist erfüllt von der Hinlänglichkeit der Dinge, und ihr Betrachten macht mich zärtlich zufrieden. Nie war ich etwas anderes als ein körperloses Sehen bar aller Seele, ein Lufthauch nur, der vorüberzog und sah.

Ich habe etwas vom Geist eines Bohemien, von jenen, die das Leben dahingehen lassen wie etwas, das den Händen entgleitet, und in denen der Impuls, es festzuhalten, schon bei der bloßen Vorstellung daran schwindet. Doch das rein kompensatorische Verhalten eines ungebundenen künstlerischen Geistes, sein unbekümmerter Umgang mit dem Wechselspiel der Emotionen war mir stets fremd. Ich war immer nur ein einsamer Bohemien: etwas Absurdes; oder ein mystischer Bohemien: etwas Unmögliches.

Manche Zeit zwischen den Stunden, die ich durchlebt habe im Angesicht der Natur und gestaltet in zärtlicher Einsamkeit, wird sich mir für immer tief einprägen. In solchen Augenblicken vergaß ich alle meine Lebensabsichten und all meine Lebensziele. Ich freute mich an der übergroßen geistigen Ruhe, die mir in den blauen Schoß meines Strebens fiel und mir erlaubte, nichts zu sein. Doch erfreute ich mich vielleicht nie einer unauslöschlichen Stunde, frei vom unterschwelligen Gefühl des Scheiterns und der Niedergeschlagenheit. In all meinen befreiten Stunden schlummerte ein Schmerz, blühte schattenhaft in fremden Gärten, hinter den Mauern meines Bewußtseins. Doch Duft und Farbe dieser traurigen Blume durchdrangen intuitiv die Mauern. Und die andere Seite, dort, wo die Rosen blühten, blieb in dem wirren Geheimnis meines Seins stets eine mir nahe, in der Schläfrigkeit meines Lebens verblaßte Seite.

Der Fluß meines Lebens endete in einem inneren Meer. Rings um mein geträumtes Landgut waren alle Bäume herbstlich. Diese kreisrunde Landschaft ist die Dornenkrone meiner Seele. Die glücklichsten Augenblicke meines Lebens waren Träume, traurige Träume, und ich sah mich in ihren Seen wie ein blinder Narziß, der sich der nahen Frische des Wassers erfreute und seines Spiegelbildes, von einer nächtlichen Vision seinen abstrakten Emotionen zugeraunt und in der geheimsten Phantasie mütterlich über alles geliebt.

Deine Schnüre aus falschen Perlen liebten mit mir meine besten Stunden. Nelken waren uns die schönsten Blumen, vielleicht, weil sie so einfach sind. Deine Lippen feierten verhalten die Ironie ihres eigenen Lächelns. Hattest du dein Schicksal wirklich verstanden? Du kannstest es, ohne es zu verstehen, daher warf das Geheimnis in deinen traurigen Augen einen Schatten auf deine entsagenden Lippen. Unser Vaterland lag zu fern für Rosen. In den Kaskaden unserer Gärten schimmerte die Stille durch das Wasser. Die kleinen Furchen in den Steinen, durch die es sich seinen Weg wählte, bargen Geheimnisse unserer Kindheit, Träume von der stillen Größe unserer Bleisoldaten, die wir in der statischen Aufstellung großer Militäraktionen auf die Steine der Kaskaden setzten, und nichts fehlte unseren Träumen, und nichts hinderte unsere Phantasie.

Ich weiß, ich bin gescheitert. Ich genieße die unbestimmte Lust am Scheitern wie einer, der nicht leben kann ohne die Erschöpfung des Fiebers, das ihn gefangenhält …

Ich hatte eine gewisse Begabung zur Freundschaft, doch Freunde hatte ich nie, entweder sie waren nicht vorhanden, oder das, was ich unter Freundschaft verstand, war ein Irrtum meiner Träume. Ich habe immer einsam gelebt, und je einsamer ich war, desto klarer sah ich mich.

320

Nachdem die letzte Sommerglut allmählich erloschen war in der schon matten Sonne, begann vorzeitig der Herbst mit einer leichten, endlosen und unbestimmten Traurigkeit, als weigere sich der Himmel, fortan zu lächeln. Sein Blau, bald heller, bald grüner, kam von der fehlenden Substanz der luftigen Farben; es war wie ein Vergessen im unterschiedlich verblichenen Purpur der Wolken; nun lag nicht mehr Reglosigkeit, sondern Überdruß in der friedlich bewölkten Einsamkeit.

Der Beginn des wirklichen Herbstes kündigte sich mit einer Kälte in der Nicht-Kälte der Luft an, mit einem Verblassen der noch nicht verblichenen Farben, mit etwas, das sich verschattete, zurückzog aus dem Farbton der Landschaft und dem weiten Blick auf die Dinge. Noch sollte nichts sterben, doch schon wandte sich alles wie mit einem noch abwesenden Lächeln sehnsuchtsvoll nach dem Leben um.

Dann schließlich kam der Herbst mit Bestimmtheit: die Luft wurde kalt im Wind; Blätter rauschten welk, obgleich sie noch nicht welk waren; die Erde nahm die Farbe und nicht faßbare Form eines nebelhaften Sumpfes an. Auch das letzte Lächeln verblaßte mit schweren Lidern und gleichgültigen Gesten. Und so drückte alles, was fühlt oder was wir für fähig halten zu fühlen, seinen eigenen Abschied ans Herz. In einem Hof pfiff ein Windstoß durch unser Bewußtsein von etwas anderem. Wie gerne wäre man jetzt gesundet, um das Leben wahrhaft zu spüren.

Doch die ersten Winterregen, bereits mitten im Herbst, wuschen diese Halbfarben ungerührt fort. Mächtige Winde heulten an gegen alles, was fest stand, lärmten an allem, was festhing, rissen alles fort, was beweglich war, und schrien in das unkontrollierte Rauschen des Regens Nicht-Worte anonymen Protests, traurige, fast wütende Laute seelenloser Verzweiflung.

Schließlich endete der Herbst, kalt und grau. Was nun kam, war ein Winterherbst, Schmutz gewordener Staub aller Dinge, doch die winterliche Kälte hatte auch ihr Gutes: der sengende Sommer lag hinter, der Frühling lag vor uns, und der Herbst bekannte sich endlich zum Winter. Und in den luftigen Höhen, wo matte Farben nicht mehr an Hitze noch Traurigkeit erinnerten, war alles der Nacht geneigt und endloser Meditation.

Und so war alles für mich, noch bevor ich es dachte. Wenn ich dies heute niederschreibe, dann weil ich mich erinnere. Der Herbst, den ich habe, ist der, den ich verlor.