Beten will ich mit dir – meiner Stimme und deiner Aufmerksamkeit – die Litanei der Hoffnungslosigkeit.
Keines Künstlers Werk, das nicht noch vollkommener hätte sein können. Vers für Vers gelesen, weist auch das größte Gedicht Verse auf, die noch besser, Passagen, die noch eindringlicher sein könnten, und niemals ist es als Ganzes so vollkommen, daß es nicht noch vollkommener hätte sein können.
Wehe dem Künstler, der dies bemerkt!, der sich eines Tages dessen bewußt wird! Seine Arbeit ist ihm nie mehr Freude, sein Schlaf nie mehr Ruhe. Er ist jung, ohne jung zu sein, wird unzufrieden alt.
Und wozu sich Stimme verleihen? Das wenige, das man sagt, bliebe besser ungesagt.
Könnte ich mich doch nur von der Schönheit des Verzichts überzeugen, wie schmerzlich glücklich wäre ich für alle Zeit!
Denn dir gefällt nicht, was ich mit den Ohren sage, mit denen ich mich das Gesagte sagen höre. Wenn ich mich laut sprechen höre, hören mir die Ohren, mit denen ich mich laut sprechen höre, auf andere Weise zu als das innere Ohr, mit dem ich mich Worte denken höre. Wenn ich mich höre und so falsch verstehe, daß selbst ich mich immer wieder fragen muß, was ich denn sagen wollte, wie erst sollen mich da andere richtig verstehen!
Von welch vielschichtigem Mißverständnis ist doch das Verständnis anderer von uns geprägt!
Die Wonne, sich verstanden zu wissen, bleibt dem versagt, der nicht verstanden sein will, solches widerfährt nur den Vielschichtigen, den Unverstandenen; die anderen aber, die schlichten Gemüter, jene, die alle Welt verstehen kann, verlangt es nie, verstanden zu werden.
329
Hast du, o Andere, je bedacht, wie unsichtbar wir füreinander sind? Hast du je darüber nachgedacht, wie wenig wir einander kennen? Wir sehen uns und sehen uns doch nicht. Wir hören einander, und ein jeder vernimmt nur eine Stimme in seinem Innern.
Die Worte anderer sind Mißverständnisse unseres Hörens, Schiffbrüche unseres Verstehens. Wie sehr vertrauen wir doch unserem Verständnis der Worte anderer. Nach Tod schmeckt uns die Lust, die andere in Worte legen. Lust und Leben lesen wir in dem, was anderen, ohne Absicht auf einen tieferen Sinn, über die Lippen kommt.
Die Stimme der Bäche, die du deutest, du reine Erklärende, die Stimme der Bäume, deren Rauschen wir einen Sinn beimessen – ach, meine unbekannte Liebe, wie sehr ist all dies wir-selbst, Phantasie und Asche, die durch die Gitter unserer Zelle verweht!
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Weil vielleicht nicht alles falsch ist, Liebste, soll nichts uns heilen von der nahezu ekstatischen Lust zur Lüge.
Äußerstes Raffinement! Höchste Perversion!! Die absurde Lüge hat allen Reiz der Perversion, zugleich mit dem letzten, noch größeren Reiz der Unschuld. Die bewußt unschuldige Perversion – wer […] könnte es noch übertreffen an höchstem Raffinement? Die Perversion, die nicht einmal versucht, uns Lust zu verschaffen, und der es am Ungestüm fehlt, uns Schmerz zu bereiten, die zu Boden stürzt zwischen Lust und Schmerz, unnütz und absurd wie ein wertloses Spielzeug, mit dem sich ein Erwachsener amüsieren will!
Kennst du nicht, Wonnige, das Vergnügen am Kauf überflüssiger Dinge? Kennst du nicht die Freude an Wegen, die wir zerstreut irrtümlich einschlagen? Welches menschliche Tun ist so bunt schillernd wie das Nachahmen – […], das sein eigenes Wesen belügt und seinen eigenen Absichten widerspricht?
Wie erhebend, ein Leben zu vergeuden, das nützlich sein könnte, nie ein Werk zu vollenden, das unweigerlich schön würde, mitten auf dem sicheren Weg zum Sieg kehrtzumachen!
Ach, Liebste, der Glanz verschollener, nie wiedergefundener Werke, der Abhandlungen, die heute nur mehr Titel sind, der verbrannten Bibliotheken, der zerschlagenen Statuen!
Wie gesegnet mit Absurdem sind doch Künstler, die ein prachtvolles Werk verbrannten, oder jene, die – obgleich zu einem vollkommenen Werk fähig – mit Bedacht ein unvollkommenes schufen, oder gar die großen Dichter des Schweigens, die, im Wissen um ihre Fähigkeit zum Meisterwerk, vorzogen, es mit ihrer Entscheidung des Nie-Schreibens zu krönen! (Wenn es denn unvollkommen ist, sei’s drum!)
Wieviel schöner wäre die Mona Lisa, könnten wir sie nicht sehen! Und wenn jemand sie stehlen und verbrennen würde, was für ein Künstler er auch sei, er wäre weit größer als jener, der sie malte! Warum ist Kunst schön? Weil sie ohne Zweck ist. Warum ist Leben häßlich? Weil es ganz Ziel, Zweck und Absicht ist. All seine Wege führen uns von einem Punkt zum andern. Gäbe es doch einen Weg, der an einem Ort beginnt, von dem niemand aufbricht, und zu einem Ort führt, wohin niemand geht!
Die Schönheit der Ruinen? Ihr Zu-nichts-mehr-nütze-Sein.
Der Zauber der Vergangenheit? Unser Sich-an-sie-Erinnern, denn sich an sie erinnern heißt, sie Gegenwart werden lassen, was sie nicht ist noch sein kann – das Absurde, Liebste, das Absurde …
Und ich, der ich all dies sage – warum schreibe ich dieses Buch? Weil ich seine Unvollkommenheit erkenne. Geträumt wäre es vollkommen; geschrieben tritt seine Unvollkommenheit zutage; deshalb schreibe ich es.
Insbesondere aber, da ich ein Verfechter alles Zwecklosen, alles Absurden bin, […] – ich schreibe dieses Buch, um mich selbst zu belügen, um meine eigene Theorie zu verraten.
Und das Erhebendste an alldem, Liebste, ist der Gedanke, daß all dies womöglich nicht wahr ist, daß nicht einmal ich es für wahr halte.
Und wenn die Lüge beginnt, uns Vergnügen zu bereiten, dann laß uns die Wahrheit sagen, um sie zu belügen! Und wenn sie uns Angst macht, laß uns innehalten, damit das Leid uns nicht zum perversen Vergnügen verkomme …
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5. 2. 1932
Ich habe Kopf- und Weltschmerz. Körperliche Schmerzen, spürbar schmerzhafter als moralische, schlagen sich im Geist nieder und lösen dort ihnen fremde Tragödien aus. Sie bewirken eine solch umfassende Ungeduld mit allem, daß nicht einmal die Sterne von ihr ausgenommen sind.
Die illegitime Auffassung, wonach wir als Seelen die Folgen eines materiellen, Hirn genannten Dings sind, das wiederum einem anderen materiellen, Schädel genannten Ding entstammt und innewohnt, kann ich nicht teilen, habe ich nie geteilt und werde ich wohl auch nie teilen können. Ich kann kein Materialist sein, wie man dies meines Erachtens nennt, denn ich kann keine klare, oder genauer, sichtbare Verbindung herstellen zwischen einer sichtbaren Masse grauer oder andersfarbiger Materie und diesem Etwas, das hinter meinem Blick die Himmel sieht und denkt, und sich Himmel vorstellt, die es nicht gibt. Doch auch wenn ich nie in den Abgrund der Annahme stürzen kann, ein Ding könne nur deshalb ein anderes sein, weil sich beide an derselben Stelle befinden, wie etwa eine Wand und mein Schatten auf der Wand, oder daß die Abhängigkeit der Seele vom Gehirn größer sei als meine Abhängigkeit von einem Gefährt, wenn ich mich fortbewegen will, so glaube ich doch, daß zwischen dem, was in uns reiner Geist ist, und dem, was in uns der Geist des Körpers ist, eine soziale Beziehung besteht, aufgrund derer es zu Streit kommen kann. Und im allgemeinen ist es die gewöhnlichere von zwei Personen, die damit beginnt.
Ich habe heute Kopfschmerzen, vielleicht kommt es vom Magen. Doch ist der Schmerz einmal vom Magen in den Kopf gelangt, unterbricht er mich in den Gedanken, die ich hinterrücks in meinem denkenden Gehirn anstelle. Wer mir die Augen zuhält, macht mich nicht blind, und doch hindert er mich am Sehen. Und daher empfinde ich jetzt, da mich der Kopf schmerzt, nichts wert- oder würdevoll an diesem Schauspiel, das sich mir, in diesem absurden, eintönigen Augenblick, in diesem Außen bietet, das ich kaum als Welt ansehen möchte. Ich habe Kopfschmerzen, und das heißt, ich weiß, daß mich die Materie beleidigt hat, und wie immer, wenn man mich beleidigt, empöre ich mich, und es dauert nicht lange, und ich lege mich mit allen an, einschließlich derer, die mir nahestehen und mich daher nicht beleidigt haben.