Deshalb verliere ich mich zuweilen in unnützen Überlegungen, zu welcher Art Mensch mich wohl zählt, wer mich sieht, wie wohl meine Stimme klingt, welches Bild ich im unfreiwilligen Gedächtnis anderer hinterlasse, auf welche Weise sich meine Gesten, meine Worte, mein scheinbares Leben in die Netzhäute der fremden Deutung eingravieren. Ich habe es nie vermocht, mich von außen zu sehen. Es gibt keinen Spiegel, der uns uns selber als äußere Wesen zeigen könnte, weil kein Spiegel uns selbst aus uns herausnehmen könnte. Dazu wäre eine andere Seele, eine andere Ordnung des Sehens und Denkens notwendig. Wenn ich Filmschauspieler wäre oder meine Stimme auf Schallplatten aufnehmen ließe, wüßte ich dennoch, daß ich nicht wüßte, was ich äußerlich bin, was ich für die andere Seite darstelle, denn ob ich will oder nicht und was auch immer man von mir aufnimmt, ich bin stets hier, im Inneren, umschlossen von den hohen Mauern des Hofs meines Bewußtseins meiner selbst.
Ich weiß nicht, ob es anderen nicht ebenso ergeht, ob die Kenntnis des Lebens nicht im wesentlichen darin besteht, sich selbst so entfremdet zu sein, daß die Entfremdung zur zweiten Natur wird und man am Leben als ein seinem eigenen Bewußtsein Fremder teilhaben kann; oder ob die anderen, noch introvertierter als ich, die Dreistigkeit besitzen, nur sie selbst zu sein. Sie leben als äußerliche Wesen dank jenem Wunder, vermittels dessen die Bienen besser organisierte Gesellschaften bilden als jede Nation und die Ameisen sich mit der Sprache ihrer winzigen Antennen verständigen, die in ihren Ergebnissen unsere komplexen Verständigungsschwierigkeiten hinter sich läßt.
Die Geographie unseres Bewußtseins zeigt überaus vielfältige Küsten und äußerst vielgestaltige Berge und Seen. Und alles wirkt auf mich, wenn ich länger darüber nachdenke, wie eine Landkarte nach Art des Pays du Tendre[57] oder aus Gullivers Reisen, eine exakte Spielerei, die in ein ironisches oder phantasievolles Buch aufgenommen wurde zum Gaudium höherer Wesen, die wissen, wo Länder wirklich Länder sind.
Für den Denkenden ist alles komplex, und zweifellos macht es das Denken mit der Lust, die er am Denken hat, noch komplexer. Wer aber denkt, den verlangt es, seinen Verzicht mit einem umfassenden Programm des Verstehens zu rechtfertigen, das wie die Argumente der Lügner mit einem Übermaß an Einzelheiten aufwartet, die, entfernt man die Erde ein wenig, die Wurzel der Lüge aufdecken.
Alles ist komplex, oder aber ich bin es. Aber wie dem auch sei, es hat nichts zu bedeuten, weil, wie dem auch sei, nichts etwas zu bedeuten hat. All dies, alle diese von der breiten Straße abweichenden Betrachtungen vegetieren in den Hinterhöfen der ausgeschlossenen Götter wie Kletterpflanzen fern ihrer Wände. Und in dieser Nacht, in der ich diese unzusammenhängenden Betrachtungen abschließe, lächle ich über die Ironie des Lebens, die sie aus einer Menschenseele hervorgehen läßt, einem Waisenkind der großen Gründe des Schicksals vor Anbeginn der Gestirne.
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An der Oberfläche meiner Müdigkeit treibt etwas von jenem Goldenen, das über dem Wasser liegt, wenn die Sonne sich von ihm abwendet und verlischt. Ich sehe mich, wie ich den See sehe, den ich mir vorgestellt habe, und in diesem See sehe ich mich. Ich vermag mir dieses Bild nicht zu erklären, oder dieses Symbol, oder dieses Ich, in dem ich mich abbilde. Sicher jedoch ist, daß ich, als sähe ich sie wirklich, eine Sonne sehe, die hinter den Bergen ihre letzten Strahlen über den See schickt, der sie dunkelgolden aufnimmt.
Ein Übel des Denkens ist, daß man während des Denkens sieht. Wer mit dem Verstand denkt, ist gedankenlos, wer mit dem Gefühl denkt, schläft, wer mit dem Willen denkt, ist tot. Ich hingegen denke mit meiner Vorstellungskraft, und alles, was mir Verstand, Kummer oder Antrieb sein sollte, wird für mich zu etwas Belanglosem, Fernem, wie dieser leblose See, auf dem das letzte Licht der Sonne vergehend treibt.
Ich hielt inne, und das Wasser kräuselte sich. Ich dachte nach, und die Sonne zog sich zurück. Ich schließe meine langsamen, schläfrigen Augen, und in meinem Inneren ist nur mehr eine Seenlandschaft, in der die Nacht aufhört, Tag zu sein, allmählich und dunkelbraun schimmernd auf dem Wasser, aus dem Algen aufsteigen.
Ich schrieb und sagte nichts. Ich habe den Eindruck, was existiert, existiert nur anderswo, jenseits der Berge, und daß dort große Reisen auf uns warten, hätten wir das Herz, sie anzutreten.
Ich bin erloschen wie die Sonne in meiner Landschaft. Von allem Gesagten und Gesehenen bleibt nur tiefe Nacht, erfüllt mit leblosem Seenglanz – eine Ebene ohne Wildenten, tot, fließend, feucht und finster.
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Ich glaube nicht an Landschaften. Jawohl. Ich sage das nicht, weil ich an Amiels »Jede Landschaft ist ein Seelenzustand« glaube, eine der besseren Formulierungen seiner unerträglichen Manie zur Verinnerlichung. Ich sage das, weil ich nicht daran glaube.
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Tag für Tag registriere ich in meiner schändlich tiefen Seele die Eindrücke, welche die äußere Substanz meines Bewußtseins von mir bilden. Ich fasse sie in unstete Worte, die mich, kaum schreibe ich sie nieder, verlassen und ihre eigenen Wege gehen über Bilderhänge und -wiesen, über Begriffsalleen und durch Verwirrung. Und all dies nützt mir nichts, da nichts mir nützt. Doch schreiben beruhigt mich, es ist wie ein Luftholenkönnen für einen, der an Atemnot leidet.
Manche kritzeln zerstreut Striche und absurde Namen auf das Löschblatt ihrer Schreibunterlage. Diese Seiten hier sind das Gekritzel meines intellektuellen Unbewußtseins meiner selbst. Ich schreibe sie schläfrig dahin, fühle mich wie ein Katze in der Sonne und lese sie bisweilen mit einem leicht überraschten Erstaunen wieder, als hätte ich mich plötzlich einer seit langem vergessenen Sache erinnert.
Wenn ich schreibe, besuche ich mich, feierlich. Ich habe spezielle Kammern, an die ein anderer sich in den Zwischenräumen meiner Vorstellung erinnert, dort vergnüge ich mich mit dem Analysieren dessen, was ich nicht fühle, und studiere mich selbst so eingehend wie ein Bild in einer dunklen Ecke.
Noch bevor ich zur Welt kam, verlor ich mein altes Schloß. Noch bevor ich war, verkaufte man die Tapisserien aus dem Palast meiner Ahnen. Mein Herrenhaus aus der Zeit vor meinem Leben ist verfallen, und nur in seltenen Augenblicken, wenn in mir der Mond mit seinem Licht über dem Schilf am Flußrand aufgeht, fröstelt mich vor Sehnsucht nach jenem Ort, an dem die zahnlosen Mauerreste sich schwarz gegen den dunkelblauen Himmel abheben, der zu einem milchigen Gelb verblaßt.
Ich erkenne mich sphinxhaft selbst. Und aus dem Schoß der Königin, die ich vermisse, rollt wie ein kleines Mißgeschick ihrer unnützen Stickerei das vergessene Knäuel meiner Seele. Es rollt unter die Kommode mit den Intarsien, und etwas in mir folgt ihm mit dem Blick, bis es entschwindet, in einem tiefen, tödlichen Entsetzen.
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2. 5. 1932
Ich schlafe nie: Ich lebe und träume, oder genauer, ich träume im Leben und im Schlaf, der gleichfalls Leben ist. In meinem Bewußtsein gibt es keine Unterbrechung: Ich nehme wahr, was mich umgibt, solange ich noch nicht schlafe oder solange ich nicht gut schlafe, und beginne zu träumen, sobald ich wirklich schlafe. So bin ich ein beständiges Sich-Entfalten zusammenhängender oder unzusammenhängender Bilder, die stets vorspiegeln, sie gehörten zur Außenwelt; einige schieben sich zwischen die Menschen und das Licht, wenn ich wach bin, andere zwischen Trugbilder und die sichtbare Lichtlosigkeit, wenn ich schlafe. Ich weiß wirklich nicht, wie ich das eine vom anderen unterscheiden soll, noch könnte ich sagen, ob ich nicht schlafe, wenn ich wach bin, ob ich nicht aufwache, wenn ich einschlafe.