Mein Vater, der weit weg lebte, legte Hand an sich, als ich drei war, ich habe ihn nie gekannt.[8] Ich weiß noch immer nicht, weshalb er weit weg lebte. Ich habe mich nie bemüht, es herauszufinden. Ich erinnere mich an die Nachricht von seinem Tod als ein ernstes Schweigen während der folgenden, ersten Mahlzeiten. Ich weiß noch, daß man mich von Zeit zu Zeit ansah. Ich erwiderte diese Blicke und begriff dumpf. Aß darauf manierlicher weiter, für den Fall, daß man mich, ohne daß ich es bemerkte, weiterhin ansah.
All das bin ich, ob ich will oder nicht, in den dunklen Tiefen meiner verhängnisvollen Sensibilität.
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Die Uhr, hinten im Haus, das wie ausgestorben wirkt, da alle schlafen, schlägt langsam vier helle Schläge zur vierten Stunde der Nacht. Ich schlafe noch immer nicht und erwarte auch nicht, es noch zu können. Ohne daß etwas meine Aufmerksamkeit fesselte und mich so vom Schlaf abhielte oder auf meinem Körper lastete und mich daher nicht zur Ruhe kommen ließe, liege ich hier im starren Schweigen meines mir fremden Körpers im Dunkel, einsamer noch durch das schwache Mondlicht der Straßenlaternen. Ich bin außerstande zu denken, so schläfrig bin ich; ich bin außerstande zu fühlen, so fehlt mir der Schlaf.
Alles um mich her ist ein abstraktes, nacktes Universum nächtlicher Verneinungen. Teils übermüdet, teils unruhig rühre ich mit dem Empfinden meines Körpers an die metaphysische Kenntnis vom Geheimnis der Dinge. Bisweilen erlahmt meine Seele, dann treiben formlose Einzelheiten des alltäglichen Lebens an der Oberfläche meines Bewußtseins, und ich führe in meinem schlaflosen Dämmerzustand Buch. Ein andermal erwache ich aus dem Halbschlaf, und vage poetische, unfreiwillig farbige Bilder ziehen in lautlosem Spiel durch meine geistesabwesenden Gedanken. Meine Augen sind nicht ganz geschlossen. Meinen matten Blick umflort von fern ein Licht; es kommt von den brennenden Laternen, unten, am Rand der verlassenen Straße.
Aufhören, einschlafen, dieses Zwischenbewußtsein ersetzen durch bessere, melancholische Dinge, heimlich dem zugeraunt, der mich nicht kennt! … Aufhören, fließen, flink wie ein Flüßchen, Ebbe und Flut eines weiten Meeres, an Küsten sichtbar in einer Nacht, in der man wirklich schlafen kann! … Aufhören, unerkannt und äußerlich sein, sich bewegende Zweige in entlegenen Alleen, sanftes Blätterfallen, mehr am Geräusch als am Fall wahrgenommen, ein hohes, schmales Meer aus Fontänen in der Ferne und all das Unbestimmte nächtlicher Parks, verloren in einem endlosen Gewirr, natürliche Labyrinthe der Finsternis …! Aufhören, endlich aufhören zu sein, doch als etwas anderes überleben, als Seite eines Buches, als eine Strähne aufgelösten Haars, als das Schwingen der Kletterpflanze nahe dem halboffenen Fenster, als belanglose Schritte auf dem feinen Kies der Wegbiegung, als letzter hoher Rauch des einschlafenden Dorfes, als vergessene Peitsche des Fuhrmanns am morgendlichen Wegrand … Widersinn, Verwirrung und Verlöschen – alles, nur nicht das Leben …
Und ich schlafe auf meine Weise, ohne Schlaf noch Ruhe, dieses vegetative Leben der Phantasie, und unter meinen ruhelosen Augenlidern treibt wie der stille Schaum eines schmutzigen Meeres der ferne Widerschein der stummen Straßenlaternen.
Ich schlafe und schlafe nicht.
Hinter mir, auf der anderen Seite meines Bettes, rührt das Schweigen des Hauses ans Unendliche. Ich höre die Zeit fallen, Tropfen um Tropfen, und nicht einen Tropfen, der fällt, hört man fallen. Mein physisches Herz ist physisch bedrückt durch die erloschene Erinnerung an alles, was war oder was ich war. Ich spüre meinen Kopf stofflich auf dem Kissen liegen, in das er ein Tal gräbt. Meine Haut und die des Kissenbezugs berühren einander wie Menschen im Dunkel. Das Ohr, auf dem ich liege, gräbt sich mir mathematisch ins Gehirn. Ich blinzle vor Erschöpfung, und meine Wimpern verursachen ein überaus schwaches, unhörbares Geräusch auf dem empfindlichen Weiß des aufgebauschten Kopfkissens. Ich atme seufzend, und mein Atemholen geschieht – es ist nicht mein eigenes. Ich leide, ohne zu fühlen oder zu denken. Die Uhr des Hauses, einem endlichen Ort mitten im Unendlichen, schlägt trocken und nichtig die halbe Stunde. Alles ist so viel, so tief, so schwarz und so kalt!
Ich durchlebe Zeiten, durchlebe Schweigen, gestaltlose Welten ziehen an mir vorüber.
Plötzlich, wie ein Kind des Mysteriums, kräht, ohne von der Nacht zu wissen, ein Hahn. Ich kann einschlafen, weil Morgen in mir ist. Ich spüre meinen Mund lächeln, leicht die weichen Falten des Kissenbezugs an meinem Gesicht verschieben. Ich kann mich dem Leben überlassen, ich kann schlafen, ich kann mich ignorieren … Und durch die beginnende, mich benebelnde Müdigkeit hindurch erinnere ich mich entweder an den krähenden Hahn, oder aber er kräht wirklich zum zweiten Mal.
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Sinfonie einer unruhigen Nacht
Alles schlief, als wäre das Universum ein Versehen; und der unbestimmt flatternde Wind war eine gestaltlose Fahne, gehißt über einer nicht vorhandenen Kaserne. Ein Nichts zerriß in den brausenden Lüften, und die Fensterrahmen rüttelten an den Scheiben, damit man der höchsten Not gewahr wurde. In der Tiefe von allem war stumm die Nacht, Gottes Grab (die Seele erfüllte Mitleid mit ihm).
Und plötzlich – eine neue Ordnung des Universums wirkte über der Stadt – pfiff der Wind in einem Intervall des Windes, und man bekam eine schlaftrunkene Vorstellung von dem stürmischen Treiben in den Höhen. Dann schloß sich die Nacht wie eine Falltür, und eine große Ruhe ließ das Bedürfnis aufkommen, all dies verschlafen zu haben.
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Während der ersten Tage des jäh anbrechenden Herbstes, wenn es wie vorzeitig dunkel wird und es scheint, als hätten wir länger als sonst für das, was wir bei Tage tun, gebraucht, genieße ich noch mitten in der Arbeit den Gedanken an das Nichtstun, den das Verschatten mit sich bringt, weil es dann dunkel ist und Dunkel Heim, Schlaf und Befreiung bedeutet. Wenn im weiträumigen Büro das Licht angeht und das Büro nicht mehr im Dunkel liegt und wir, obgleich es dunkel ist, noch immer unserem Tagwerk nachgehen, verspüre ich ein absurdes Wohlbefinden wie eine Erinnerung an jemand anderen, und ich schreibe so ruhig, als läse ich, bis ich spüre, daß ich zu Bett gehen kann.
Wir alle sind Sklaven äußerer Umstände: Ein sonniger Tag erschließt uns weite Felder mitten in einem engen Café; ein Schatten auf dem Feld bewirkt, daß wir uns ins Innere ducken und nur mühsam schützen im türlosen Haus unserer selbst; der anbrechende Abend entfaltet, wie ein sich langsam öffnender Fächer, selbst unter lauter Tagesdingen, in unserem Inneren das Bewußtsein, daß wir Ruhe brauchen.
Dennoch gerät die Arbeit nicht in Verzug: Sie belebt sich eher. Wir arbeiten nun nicht länger; wir erholen uns bei der Tätigkeit, zu der wir verurteilt sind. Und siehe da, auf dem großen linierten Bogen meines Zahlen reihenden Schicksals beherbergt das alte, gegen die Welt abgeschlossene Haus meiner alten Tanten urplötzlich den schläfrigen 10-Uhr-Tee; und die Petroleumlampe meiner verlorenen Kindheit, die nur auf dem leinengedeckten Tisch glänzt, verdunkelt mir mit ihrem Licht das Bild Herrn Moreiras, den eine schwarze Elektrizität unendlich weit von mir erhellt. Man serviert den Tee – das Dienstmädchen, noch älter als die Tanten, bringt ihn noch schlaftrunken herein, mit der zärtlich mißlaunigen Nachsicht langer Vasallenschaft, und ich trage, ohne mich zu irren, einen Posten oder eine Summe durch all meine tote Vergangenheit hindurch ein. Ich versinke wieder in Gedanken, verliere mich in mir, vergesse mich in fernen Nächten, unbefleckt von Pflicht und Welt, jungfräulich in Geheimnis und Zukunft.