Nur was wir träumen, sind wir wirklich, denn alles übrige gehört, weil es verwirklicht ist, der Welt und allen Menschen. Verwirklichte ich einen Traum, würde ich eifersüchtig, denn er hätte mich, sich verwirklichen lassend, hintergangen. Ich habe alles verwirklicht, was ich wollte, sagt der Schwache, und er lügt; wahr ist, daß er prophetisch all das träumte, was das Leben durch ihn verwirklichte. Wir verwirklichen nichts. Das Leben wirft uns wie einen Stein durch die Luft, während wir sagen: »Und ich bewege mich doch.«
Was auch immer dieses Zwischenspiel unter dem Scheinwerfer der Sonne und dem Flitter der Sterne bedeuten mag, schadet es wohl nicht, zu wissen, daß es ein Zwischenspiel ist; wenn, was sich hinter den Theatertüren verbirgt, Leben ist, werden wir leben; wenn es Tod ist, werden wir sterben, und das Stück hat nichts damit zu tun.
Deshalb fühle ich mich der Wahrheit nie so nahe, so spürbar eingeweiht in ihr Geheimnis wie bei meinen seltenen Theater- oder Zirkusbesuchen: Dann weiß ich, daß ich einer originalgetreuen Darstellung des Lebens beiwohne, Spaßmacher und Zauberkünstler sind so wichtig und nichtig wie Sonne und Mond, Liebe und Tod, Pest, Hunger und Krieg unter den Menschen. Alles ist Theater. Ach, will ich wirklich die Wahrheit? Ich kehre zurück zu meinem Roman …
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Das verwerflichste aller Bedürfnisse: die vertrauliche Mitteilung, das Bekenntnis. Das Bedürfnis der Seele, sich zu äußern.
Ja, bekenne; aber nur, was du nicht fühlst! Ja, befreie deine Seele von der Last ihrer Geheimnisse, gib sie preis; ein Glück, daß du die Geheimnisse, die du preisgibst, nie hattest. Belüge dich lieber selbst, statt diese Wahrheit auszusprechen! Etwas aussprechen heißt immer irren. Sei dir bewußt: Etwas aussprechen bedeutete, für dich, lügen.
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23. 5. 1932
Ich weiß nicht, was Zeit ist. Ich kenne ihr wirkliches Maß nicht, falls sie denn eines hat. Ich weiß, die Uhrzeit ist falsch: sie mißt die Zeit in Räumen, von außen. Die empfundene Zeit ist falsch: sie mißt nicht die Zeit, sondern unser Empfinden von ihr. Und ich weiß, auch die geträumte Zeit ist falsch, denn in unseren Träumen streifen wir die Zeit einmal länger und einmal kürzer, und was wir in dieser Zeit erleben, geschieht schnell oder langsam, je nach ihrem Verlauf, dessen Beschaffenheit sich mir entzieht.
Manchmal meine ich, alles sei falsch, und die Zeit sei nur ein Rahmen für etwas, das außerhalb von ihr ist. In der Erinnerung an mein vergangenes Leben sind die Zeiten auf und in absurden Ebenen und Plänen angeordnet, und zu einem bestimmten Zeitpunkt meiner feierlichen fünfzehn Jahre bin ich jünger als zu einem anderen meiner zwischen Spielzeug sitzenden Kindheit.
Mein Bewußtsein gerät durcheinander, wenn ich an diese Dinge denke. Ich ahne einen Fehler in alledem, weiß jedoch nicht, wo er liegt. Es ist, als sähe ich einem Taschenspieler bei seiner Arbeit zu, wohl wissend, daß ich getäuscht werde, aber unfähig, die Technik oder den Mechanismus der Täuschung herauszufinden.
Dann überkommen mich absurde Gedanken, die ich dennoch nicht als gänzlich absurd abtun kann. Ich frage mich, ob ein Mensch, der langsam in einem schnell fahrenden Wagen denkt, sich schnell oder langsam fortbewegt. Ich frage mich, ob der Sturz eines Selbstmörders ins Meer und der eines Fußgängers auf einer Esplanade, obgleich sie gleich schnell geschehen, auch das gleiche sind. Ich frage mich, ob das Rauchen meiner Zigarette, das Niederschreiben dieser Passage und mein dunkles Nachdenken, die alle gleich viel Zeit in Anspruch nehmen, auch wirklich synchron geschehen.
Wir können uns vorstellen, daß eines von zwei Rädern derselben Achse dem anderen immer ein Stück voraus ist, wenn auch nur um den Bruchteil von Millimetern. Unter einem Mikroskop nähme sich diese Verschiebung übertrieben, fast unglaubhaft, ja, unmöglich aus, wäre sie nicht wirklich. Und warum sollte ein Mikroskop einem schlechten, Augenlicht gegenüber nicht recht haben? Unnütze Betrachtungen? Ich weiß. Illusionen der Betrachtung? Einverstanden. Doch was mißt uns da ohne Maß und tötet uns, ohne zu sein? Und in genau diesen Momenten, in denen ich nicht einmal weiß, ob die Zeit existiert, spüre ich sie wie eine Person und möchte schlafen.
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Patiencen
An den langen, von Petroleumlampen erhellten Abenden auf dem Land vertrieben sich die Tanten derer, die sie hatten, in ihren leer hallenden Häusern die Zeit mit Patiencenlegen, während die Magd beim ansteigenden Summen des Wasserkessels döste. Jemand in mir, der meinen Platz einnimmt, sehnt sich nach dieser nutzlosen Ruhe. Der Tee kommt, und die abgegriffenen Karten werden fein säuberlich auf einer Ecke des Tisches gestapelt. Der riesige Geschirrschrank verstärkt noch das Dunkel des dämmrigen Eßzimmers. Das Gesicht der Magd, die sich träge beeilt, ihrer Pflicht nachzukommen, schwitzt schläfrig. All dies sehe ich in mir, erfüllt von einer Lebensangst und einer Sehnsucht, die mit nichts etwas zu tun haben. Und unwillkürlich frage ich mich, in welch einem Geisteszustand sich jemand befinden muß, um Patiencen zu legen.
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31. 5. 1932
Nicht auf den weiten Feldern oder in den großen Gärten sehe ich den Frühling kommen. Sondern auf den wenigen armseligen Bäumen eines kleinen städtischen Platzes. Dort hebt sich das Grün ab wie ein Geschenk und ist heiter wie eine rechte Traurigkeit.
Ich liebe diese einsamen Plätze, die sich zwischen Straßen mit geringem Verkehr schieben und selbst noch verkehrsärmer als diese Straßen sind. Es sind nutzlose Lichtungen, Dinge im Zustand der Erwartung, zwischen fernen Tumulten. Sie sind Dorf in der Stadt.
Ich überquere einen dieser Plätze, gehe eine der in ihn mündenden Straßen hoch und wieder hinunter, zurück zu ihm. Von der gegenüberliegenden Seite aus betrachtet, ist der Platz ein anderer, doch der gleiche Friede vergoldet mit plötzlicher Sehnsucht – in der untergehenden Sonne – die Seite, die ich zunächst nicht wahrgenommen hatte.
Alles ist unnütz, und ich empfinde es so. Was ich erlebt habe, ist mir entfallen, als hätte ich nur zerstreut davon gehört. Was ich sein werde, ruft nichts in mir wach, als hätte ich es bereits erlebt und wieder vergessen.
Ein Sonnenuntergang leichten Kummers umflort mich vage. Alles wird kühler, doch nicht, weil es abkühlte, nein, ich bin in eine enge Straße gebogen, und der Platz liegt hinter mir.
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Nicht kalt und nicht warm stieg der Morgen auf zwischen den wenigen Häusern außen an den Hängen der Stadt. Ein leichter, hellwacher Nebel zerriß über den schlaftrunkenen Hügeln in konturlose Fetzen. (Nicht die Luft war kalt, nur der Zwang, das Leben wieder aufzunehmen.) Und all dies, dieser taufrische, beschwingte Morgen, war wie von einer Heiterkeit, die er niemals hatte empfinden können.
Die Straßenbahn fuhr langsam hügelab in Richtung der Avenidas. Je näher er den immer dichter stehenden Häusern kam, desto stärker ergriff ihn ein unbestimmtes Gefühl von Verlust. Die menschliche Realität wurde zusehends sichtbar.
In diesen frühen Morgenstunden, wenn die nächtlichen Schatten verflogen sind, nicht aber ihre leichte Last, sehnt sich der Geist, angesteckt vom Augenblick, nach Ankunft und dem alten Hafen in der Sonne. Er wünschte sich weniger, die Zeit stünde still, wie bisweilen für Augenblicke in einer feierlichen Landschaft oder wenn der Mond friedlich auf den Fluß scheint, als vielmehr ein anderes Leben, dann wäre dieser Augenblick vielleicht von einer anderen, ihm verwandteren Farbe gewesen.