Der ungewisse Nebel löste sich mehr und mehr auf. Die Sonne ergriff mehr und mehr Besitz von den Dingen. Die Stimmen des Lebens ringsum wurden deutlicher.
In solchen Augenblicken wünschte man sich, niemals in der menschlichen Wirklichkeit anzukommen, der Bestimmung unseres Lebens. In der Schwebe verharren, unwägbar zwischen Nebel und Morgen, nicht im Geist, sondern im vergeistigten Körper, in einem beschwingten, wirklichen Leben – dies würde mehr als alles andere unser Verlangen nach Zuflucht befriedigen, selbst wenn es grundlos ist.
Jede subtile Empfindung macht uns gleichgültig, nicht nur gegenüber dem für uns Unerreichbaren, nämlich Empfindungen, für die unsere Seele noch zu embryonal ist, für menschliches Handeln, das sich mit tiefem Empfinden deckt, für Passionen und Emotionen, die verlorengegangen sind bei der Verwirklichung anderer Dinge.
Die Baumreihen entlang der Avenidas blieben von all dem unberührt.
Die Morgenstunde endete in der Stadt wie der Hang auf der anderen Seite des Flusses, wenn die Fähre dort anlegt. Während der Überfahrt war das zurückbleibende Ufer von der Reeling aus zu sehen, es entschwand erst mit dem Geräusch des Aufpralls an der Kaimauer. Ein Mann mit bis über die Knie hochgekrempelten Hosen befestigte das Tau an einem Haken, seine Bewegung hatte etwas Natürliches, Endgültiges, Abschließendes. Sie mündete metaphysisch gesehen in meiner seelischen Unfähigkeit, mich weiter einer zweifelhaften Lebensangst zu erfreuen. Die Jungen am Kai sahen uns an wie einen x-beliebigen Menschen, dem der nützliche Aspekt von Anlegemanövern keine derartig unangemessene Empfindung entlocken würde.
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Die Hitze fühlt sich an wie ein Kleidungsstück, das man ablegen möchte.
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Ich fühlte mich bereits unruhig. Der Atem der Stille hatte unversehens ausgesetzt.
Da zerbarst jäh ein endloser Tag[58] wie Stahl. Ich duckte mich wie ein Tier über den Tisch, die Hände flach wie nutzlose Krallen auf der glatten Platte. Seelenloses Licht war in Ecken und Seelen gedrungen, lautes Berggrollen war aus nahen Höhen herabgestürzt und hatte mit einem Schrei den dichten Schleier über dem Abgrund zerrissen. Mein Herz stand still. Meine Kehle pochte. Mein Bewußtsein sah nur einen Tintenfleck auf einem Blatt Papier.
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11. 6. 1932
Nachdem die Hitze nachgelassen hatte und ein leichter, zunehmend vernehmbarer Regen einsetzte, entstand in der Luft eine Stille, die der Luft in der Hitze nicht eigen war, ein neuer Friede, in den das Wasser seine eigene Brise mischte. So hell war die Freude dieses Regens ohne Sturm oder Finsternis, daß jene, die weder einen Schirm noch einen Mantel mit sich trugen, und das waren fast alle, bei ihrem raschen Gang über die regennasse Straße lachend miteinander sprachen.
Während eines müßigen Augenblicks trat ich ans offene Fenster meines Büros – man hatte es wegen der Hitze geöffnet, nicht aber während des Regens geschlossen – und betrachtete wie immer mit intensiv gleichgültiger Aufmerksamkeit, was ich soeben genau beschrieben habe, noch bevor ich es in Augenschein nahm. Ja, da lief fröhlich die banale Zweisamkeit, lächelnd und sich unterhaltend im Nieselregen, eher schnellen als eiligen Schritts durch den nunmehr verhangenen, klaren lichten Tag.
Jetzt aber erschien in meinem Blickfeld hinter einer Straßenecke unversehens ein alter abgerissener Mann, arm und nicht ergeben, unter dem nachlassenden Regen ungeduldig ausschreitend. Er, der mit Sicherheit kein Ziel hatte, war zumindest ungeduldig. Und schon betrachtete ich ihn nicht mehr mit jener unachtsamen Aufmerksamkeit, wie man sie Dingen schenkt, sondern mit jener, die Symbole erkennt. Er war das Symbol eines Niemands, deshalb hatte er es eilig. Er war das Symbol eines Menschen, der nichts war, deshalb litt er. Er gehörte nicht zu denen, die lächelnd die unbequeme Freude des Regens spürten, sondern zum Regen selbst – ein unbewußt Lebender, so sehr fühlte er die Wirklichkeit.
Doch nicht das wollte ich eigentlich sagen. Zwischen meine Beobachtung des Passanten, den ich letztlich rasch aus den Augen verlor, weil ich ihm nicht länger nachschaute, und den Zusammenhang dieser Beobachtungen schob sich ein Geheimnis der Unaufmerksamkeit, ein gefährlicher Augenblick der Seele, der meinen Gedankengang unterbrach. Und inmitten meiner Abwesenheit höre ich nun, ohne zu hören, die Stimmen der Packer hinten im Büro, dort, wo das Warenlager anfängt, und sehe, ohne zu sehen, die doppelt geschlungenen Verpackungsschnüre der Postpakete; zweifach, unter Scherzen und Scheren, werden die Knoten geknüpft um das graue Papier der Pakete auf dem Tisch am Fenster zum Hinterhof.
Sehen heißt gesehen haben.
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Es ist eine Lebensregel, daß wir von allen Menschen lernen können und sollten. Es gibt ernsthafte Dinge des Lebens, die wir von Scharlatanen und Gaunern lernen können, es gibt philosophische Einsichten, die uns Narren verschaffen, es gibt Lektionen in Standhaftigkeit und Gerechtigkeit, die uns der Zufall lehrt und die Früchte des Zufalls sind. Alles findet sich in allem.
In bestimmten lichten Augenblicken des Nachdenkens, wie jene am frühen Nachmittag, wenn ich beobachtend durch die Straßen schlendere, bringt mir jeder Passant eine Nachricht, lehrt mich jedes Haus etwas Neues, enthält jedes Plakat eine Mitteilung für mich.
Mein stiller Spaziergang ist ein beständiges Gespräch, und wir alle, Menschen, Häuser, Steine, Plakate und Himmel, sind eine große freundschaftliche Menge, die sich mit Worten anrempelt in der großen Prozession des Schicksals.
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Gestern habe ich einen großen Mann gesehen und gehört. Ich meine nicht einen Mann, dem man Größe nachsagt, sondern einen Mann, der wirklich Größe besitzt. Er hat Format, falls es das gibt in dieser Welt; man erkennt sein Format an, und er weiß es. Mithin verfügt er für mich über alle nötigen Voraussetzungen, in ihm einen großen Mann sehen zu können. Und das ist er wirklich.
Sein Erscheinungsbild ist das eines müden Geschäftsmannes. Sein Gesicht trägt Spuren der Ermüdung, sie könnten ebensogut das Resultat zu vielen Denkens sein als auch das eines der Gesundheit abträglichen Lebenswandels. Seine Gestik ist unauffällig; sein Blick in gewisser Weise lebhaft – ein Vorzug aller Nicht-Kurzsichtigen. Seine Stimme klingt leicht belegt, als beeinträchtige eine beginnende allgemeine Lähmung diese Äußerung seiner Seele. Und die solchermaßen geäußerte Seele verbreitet sich über Parteipolitik, über die Entwertung des Escudo und über das, was klein ist an den Kollegen seiner Größe.
Wüßte ich nicht, wer er ist, ich könnte ihn nicht an seinem Äußeren erkennen. Ich weiß wohl, daß man sich von großen Männern nicht die heroische Vorstellung machen sollte, die sich schlichte Gemüter von ihnen machen: Demnach müßte ein großer Dichter den Körper eines Apoll besitzen und die Ausdruckskraft eines Napoleon, zumindest aber ein distinguierter Herr mit einem ausdrucksvollen Gesicht sein. Ich weiß wohl, daß dergleichen menschlich, natürlich und absurd ist. Denn wenn man auch nicht alles oder fast alles erwartet, so erwartet man doch immerhin etwas. Daher sollte man, wenn man von der Gestalt, die man sieht, auf die Seele, die spricht, schließt, nicht etwa Geist und Lebendigkeit erwarten, wohl aber mit Intelligenz rechnen dürfen und einem Hauch von Erhabenheit.