Das einzige Problem ist das Realitätsproblem, es ist so unlösbar wie lebendig. Was weiß ich vom Unterschied zwischen einem Baum und einem Traum? Ich kann den Baum berühren: Ich weiß, ich träume den Traum. Was bedeutet diese Wahrheit?
Was bedeutet dies? Ich kann allein in dem menschenleeren Büro in meiner Phantasie leben, ohne daß mein Verstand Schaden nimmt. Meine Gedanken werden weder von den verlassenen Schreibpulten noch von den Warenpacken mit dem zugehörigen Papier und den Bindfadenknäueln unterbrochen. Ich sitze nicht auf meiner hohen Bank, sondern lehne mich auf dem runden Armstuhl Herrn Moreiras zurück, als ob ich meine Beförderung vorwegnähme. Vielleicht ist es der Einfluß des Ortes, der mich mit Geistesabwesenheit salbt. Hitzetage machen schläfrig; ich schlafe, ohne zu schlafen, aus Mangel an Energie. Daher diese Gedanken.
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Schmerzhaftes Intervall
Die Straße ermüdet mich allmählich, aber nein, sie ermüdet mich nicht – alles im Leben ist Straße. Eine Taverne ist gegenüber, ich sehe sie, wenn ich über die rechte Schulter schaue; und auch ein Stapel Kisten, ich sehe ihn, wenn ich über die linke Schulter schaue; und in der Mitte, was ich nicht sehe, wenn ich mich nicht ganz umdrehe, beschallt der Schuhmacher den Eingang zu den Büros der Companhia Africana mit gleichmäßigem Hämmern. Die anderen Stockwerke sind unbestimmt. Im dritten Stock ist eine Pension, angeblich unsittlich, aber so ist es mit allem – das Leben.
Die Straße mich ermüden? Nur denken ermüdet mich. Wenn ich auf die Straße schaue oder sie fühle, denke ich nicht: ich arbeite mit einer großen inneren Ruhe, der letzte in dieser Gegend, ein buchführender Niemand. Ich habe keine Seele, niemand hat eine Seele – alles ist Arbeit in diesem großen Haus. Dort, wo die Millionäre ihr Leben genießen, immer in irgendeinem Ausland, auch dort gibt es Arbeit, und auch keine Seele. Und alles, was bleibt, ist der eine oder andere Dichter. Bliebe von mir doch nur ein einziger Satz, etwas, von dem man sagte: Gut getroffen!, wie die Zahlen, die ich abschreibe und eintrage, Seite um Seite, in das Buch meines Lebens.
Ich glaube, ich werde immer Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft bleiben. Ich habe den aufrichtigen, brennenden Wunsch, niemals Hauptbuchhalter zu werden.
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28. 9. 1932
Seit langem schon – ich weiß nicht, ob seit Tagen, ob seit Monaten – zeichne ich keinen Eindruck mehr auf; ich denke nicht, also existiere ich nicht. Ich habe vergessen, wer ich bin; ich vermag nicht zu schreiben, weil ich nicht zu sein vermag. Infolge einer sonderbaren Schläfrigkeit war ich ein Anderer. Feststellen, daß ich mich nicht erinnere, heißt erwachen.
Ich habe eine Zeit meines Lebens bewußtlos verbracht. Ich kehre zu mir zurück ohne die Erinnerung an das, was ich gewesen bin, und die Erinnerung an das, was ich war, leidet unter diesem Bruch. Ich habe die vage Vorstellung eines Zeitraums im Unbekannten, ein Teil meiner Erinnerung versucht vergeblich, den anderen wiederfinden zu wollen. Ich bin außerstande, erneut an mich anzuknüpfen. Falls ich gelebt haben sollte, habe ich vergessen, es wahrzunehmen.
Es ist nicht etwa dieser erste spürbare Oktobertag, der erste mehr als frische, der den toten Sommer in weniger Licht kleidet, der mit seiner kühlen Klarheit in mir das Empfinden gescheiterter Pläne oder eines falschen Willens hervorruft. Es ist nicht etwa die ungewisse Spur einer nutzlosen Erinnerung, die sich durch dieses Zwischenspiel verlorener Dinge zieht. Es ist schmerzhafter als all dies, es ist der Überdruß, sich an das erinnern zu wollen, was sich nicht erinnern läßt, ein Untröstlichsein über all das vom Bewußtsein zwischen Algen und Schilf Verlorene, am Ufer von ich weiß nicht was.
Ich weiß, daß dieser reine, reglose Tag einen wirklichen Himmel hat, dessen Blau weniger klar ist als ein dunkles Blau. Ich weiß auch, daß die Sonne, obschon ein Hauch weniger golden als bisher, Mauern und Fenster mit feuchtem Glanz vergoldet. Und obschon kein Wind weht und keine Brise, die an ihn erinnerte und ihn leugnete, weiß ich dennoch, daß eine wache Frische in der unbestimmten Stadt schläft. All dies weiß ich, ohne zu denken oder zu wollen, und ich verspüre keine Müdigkeit, es sei denn in der Erinnerung, und auch keine Sehnsucht, es sei denn aus Unruhe.
Steril und fern genese ich von der Krankheit, die ich nicht hatte. Hellwach bereite ich mich vor, auf was ich nicht wage. Welcher Schlaf ließ mich nicht schlafen? Welche Liebkosung wollte nicht zu mir sprechen? Wie gut, ein Anderer zu sein beim tiefen, kalten Einatmen eines harten Frühlings! Wie gut – besser als Leben –, dies zumindest denken zu können, während in der Ferne in dem wiedererinnerten Bild das Schilf sich ohne spürbaren Wind meeresgrün über den Fluß neigt!
Wie oft, wenn ich mich an den erinnere, der ich nicht war, denke ich an mich als jungen Menschen und vergesse! Wie anders waren doch die wirklichen Landschaften, die ich nie sah; und wie neu für mich die unwirklichen, die ich wirklich sah. Was kümmert’s mich? Der Zufall führte mich in Räume zwischen den Dingen, wo ich endete, und während die Frische des Tages die Frische der Sonne selber ist, schläft kalt das dunkle Schilf des Flusses im Sonnenuntergang, den ich sehe, ohne daß er stattfände.
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28. 9. 1932
Niemand hat bisher den Überdruß in einer für jene, die ihn nicht kennen, verständlichen Sprache beschrieben. Für die einen ist Überdruß nichts anderes als Langeweile, für die anderen schlichtes Unbehagen, und wieder andere betrachten ihn als ein Müdesein. Doch auch wenn Überdruß mit Ermüdung, Unbehagen und Langeweile zu tun hat, hat er mit ihnen nur soviel zu tun wie Wasser mit Wasser- und Sauerstoff, aus denen es sich zusammensetzt. Es schließt sie ein und bleibt doch es selbst.
Während einige eine beschränkte und unvollständige Vorstellung vom Überdruß haben, messen ihm andere wiederum eine Bedeutung bei, die in gewisser Weise über ihn hinausgeht – so als bezeichne man die tiefinnere und geistige Abneigung gegen die Vielfalt und Ungewißheit der Welt als Überdruß. Was uns gähnen macht, ist Langeweile; was uns zappelig werden läßt, ist Unbehagen; was uns den Elan nimmt, ist Ermüdung – nichts von alledem ist Überdruß; aber er ist auch nicht das tiefe Empfinden von der Leere der Dinge, durch das sich das gescheiterte Bestreben befreit, das enttäuschte Begehren erhebt und in der Seele der Samen keimt, aus dem der Mystiker oder der Heilige erwächst.
Überdruß ist zweifellos die Langeweile an der Welt, das Unbehagen am Leben, das Des-Lebens-müde-Sein; Überdruß ist in der Tat die fleischliche Wahrnehmung der übergroßen Leere der Dinge. Doch mehr noch als all dies ist Überdruß auch eine Langeweile an anderen Welten, gleich, ob sie existieren oder nicht; ein Unbehagen, leben zu müssen, wenn auch als Anderer, auf andere Weise und in einer anderen Welt; ein Müdesein nicht nur des Gestern und des Heute, sondern auch des Morgen und der Ewigkeit, sofern es sie denn gibt, und des Nichts, sofern es denn die Ewigkeit ist. Nicht allein die Leere der Dinge und Lebewesen schmerzt die überdrüssige Seele, sondern auch die Leere von etwas anderem, etwas nicht Ding- und Wesenhaftem, die Leere der Seele selbst empfindet diese Leere, fühlt sich leer und ist in dieser Leere von sich selbst angewidert und abgestoßen.
Überdruß ist die körperliche Empfindung des Chaos, eines Chaos, das alles ist. Der Gelangweilte, der sich unbehaglich Fühlende, der Müde fühlen sich gefangen in einer engen Zelle. Wer die Enge des Lebens verabscheut, fühlt sich gefesselt in einer großen Zelle. Wer jedoch am Überdruß leidet, fühlt sich gefangen in der wertlosen Freiheit einer unendlichen Zelle. Über denen, die Langeweile, Unbehagen oder Müdigkeit empfinden, können die Zellenmauern einstürzen und sie begraben. Wer die Kleinheit der Welt verabscheut, von dem können die Fesseln abfallen, und er kann flüchten; oder aber er empfindet es als schmerzlich, sie nicht abschütteln zu können, und vermag dank dieses Schmerzes aufzuleben, ohne das Gefühl der Abscheu. Doch die Mauern der unendlichen Zelle können uns nicht begraben, da sie nicht existieren, und ebensowenig können wir durch den Schmerz der Fesseln aufleben, denn niemand hat sie uns angelegt.