Wer waren wir? Zwei Wesen oder zwei Formen nur eines Wesens? Wir wußten es nicht, noch fragten wir. Eine unbestimmte Sonne mußte existieren, denn es war nicht dunkel im Wald. Ein unbestimmtes Ziel mußte existieren, denn wir folgten einem Weg. Eine Welt mußte existieren, denn es existierte ein Wald. Das aber, was war oder sein konnte, war uns fremd, Wanderer, die wir waren, im Einklang und ewig, auf welken Blättern, namenlose, unmögliche Zuhörer fallender Blätter. Nicht mehr. Ein bald rauhes, bald sanftes Rauschen des unbekannten Waldes, ein bald lautes, bald leises Raunen nicht gefallener Blätter, eine Spur, ein Zweifel, eine aufgegebene Absicht; eine Illusion, die es nie gab – der Wald, die zwei Wanderer und ich, nicht wissend, wer von beiden ich war, ob beide oder keiner von beiden. Und ohne ihr Ende zu sehen, wohnte ich der Tragödie bei, die besagt, daß es nie mehr geben wird als den Herbst und den Wald und den immerfort rauhen, ungewissen Wind und die immerfort fallenden oder abgefallenen Blätter. Und immerfort, als gäbe es außerhalb mit Gewißheit eine Sonne und einen Tag, sah man deutlich hin zu keinem Ende in der lärmenden Stille des Waldes.
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Vermutlich bin ich, was man einen Dekadenten nennt, einer, dessen Geist äußerlich durch dieses traurige Leuchten einer künstlichen Fremdheit bestimmt ist, die einer rastlosen, seiltänzerischen Seele in unerwarteten Worten Gestalt gibt. Ich spüre, daß ich so bin und daß ich absurd bin. Daher suche ich in Nachahmung einer Hypothese der Klassiker, zumindest den schmucken Empfindungen meiner Ersatzseele durch eine ausdrucksstarke Mathematik Form zu verleihen. Es kommt immer wieder vor, daß ich in einem bestimmten Stadium meines schriftlichen Nachdenkens nicht mehr weiß, wo das Zentrum meiner Aufmerksamkeit liegt – ob in den verstreuten Empfindungen, die ich zu beschreiben versuche wie unbekannte Tapisserien, ob in den Worten, in die ich mich, im Wunsch, den Akt des Beschreibens zu beschreiben, verstricke, verirre und auf diese Weise andere Dinge sehe. Neben klaren und verschwommenen Gedanken-, Bild- und Wortassoziationen sage ich, was ich empfinde, wie auch, was ich zu empfinden glaube, und unterscheide nicht mehr zwischen dem, was die Seele sagt und was die Bilder, die auf dem Boden blühen, auf den die Seele sie hat fallen lassen, ja, ich erkenne nicht einmal mehr, ob der Klang eines barbarischen Wortes oder der Rhythmus eines eingeschobenen Satzes mich nicht schon vom an sich unbestimmten Thema abbringt, von der schon eingefahrenen Empfindung, und mich entbindet von allem Denken und Sagen, wie jene großen Reisen, die man zur Zerstreuung unternimmt. Und all dies müßte, während des Wiedergebens hier, ein Gefühl von Nichtigkeit, Scheitern und Schmerz wachrufen und vermag mir doch nur goldene Schwingen zu verleihen. Sobald ich von Bildern spreche, entstehen – vielleicht, weil ich ein Zuviel an Bildern ablehne – neue Bilder in mir; sobald ich mich aufrichte, um zu verwerfen, was ich nicht empfinde, empfinde ich es bereits, und das Verwerfen wird zu einem mit Spitzen verzierten Gefühl. Sobald ich mich Irrwegen anheimgeben will, da der Glaube an mein Bemühen endgültig geschwunden ist, lassen mich ein klassischer Begriff, ein räumliches, schmuckloses Adjektiv, plötzlich, wie im Licht eines Sonnenstrahls, klar die schläfrig geschriebene Seite vor mir erkennen, und die Buchstaben aus der Tinte meines Federhalters werden zu einer absurden Landkarte magischer Zeichen. Und ich lege mich beiseite wie meinen Federhalter und hülle mich ein in meinen Umhang, lehne mich zurück, allein, fern, zwischen zwei Welten, besiegt, am Ende, wie ein Schiffbrüchiger, der, märchenhafte Inseln vor Augen, untergeht inmitten eines veilchenblau vergoldeten Meeres, von dem er auf fernen Lagern wirklich träumte.
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Die Empfänglichkeit der Sinne Literatur werden lassen und Emotionen, wenn sie bisweilen kläglich zutage treten, in sichtbare Materie verwandeln und daraus funkelnd[60] fließende Wortskulpturen schaffen.
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»Schöpfer von Gleichgültigkeiten« ist die Devise, die ich mir heute für meine Geisteshaltung wünsche. Ich wünschte, ich könnte mit meinem Tun im Leben andere insbesondere dahin gehend beeinflussen, mehr und mehr für sich selbst zu empfinden und weniger und weniger gemäß dem dynamischen Gesetz des Kollektivs … Ihnen jene geistige Asepsis vermitteln, dank derer sie immun bleiben gegen das Gewöhnliche, scheint mir die höchste Bestimmung zu sein für den Pädagogen innerer Disziplin, der ich gerne wäre. Mögen all jene, die mich lesen, lernen – nach und nach, wie es die Sache nahelegt –, angesichts der Meinungen und Blicke anderer nichts zu empfinden, dies wäre eine hinreichende Krönung des scholastischen Stillstands meines Lebens.
Meine Unfähigkeit zu handeln war für mich stets eine Krankheit metaphysischer Ätiologie. Alles Tun hatte für mein Empfinden der Dinge im äußeren Universum stets eine Störung, eine Spaltung zur Folge; jede Bewegung vermittelte mir stets den Eindruck, daß sie die Sterne nicht unberührt und die Himmel nicht unverändert ließe. Daher nahm für mich bereits früh die metaphysische Bedeutung der kleinsten Geste erstaunliche Ausmaße an. Und mein Tun erlangte unweigerlich eine transzendentale Aufrichtigkeit, die mir, seit sie fest in meinem Bewußtsein verankert ist, eine intensivere Beziehung zur greifbaren Welt verbietet.
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Abergläubisch sein zu können zählt immer noch zu jenen Künsten, die, werden sie meisterhaft ausgeübt, den höheren Menschen kennzeichnen.
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13. 12. 1932
Seit ich, wann immer ich kann, nachdenke und beobachte, habe ich bemerkt, daß die Menschen weder die Wahrheit kennen noch sich einig sind, was im Leben wirklich wesentlich oder lebenswert ist. Die exakteste Wissenschaft ist die Mathematik, die in der Abgeschlossenheit ihrer eigenen Regeln und Gesetze lebt; angewandt erhellt sie zwar andere Wissenschaften, doch erhellt sie nur, was diese preisgeben, und hilft nicht, es zu entdecken. Bei den übrigen Wissenschaften gilt nur das als sicher oder erwiesen, was für die höchsten Ziele des Lebens ohne Belang ist. Die Physik kennt zwar den Dehnungskoeffizienten für Eisen, nicht aber die wahre Mechanik des Weltgefüges. Und je weiter wir in dem voranschreiten, was wir zu wissen suchen, desto mehr fallen wir in dem zurück, was wir wissen. Die Metaphysik, die für uns der Leitfaden schlechthin sein könnte, da sie und nur sie sich den höchsten Zielen der Wahrheit und des Lebens zuwendet, ist nicht einmal eine wissenschaftliche Theorie, sondern nur ein Haufen Ziegelsteine, mit denen diese oder jene Hände ungestalte Häuser bauen, die kein Mörtel zusammenhält.
Desgleichen habe ich bemerkt, daß Mensch und Tier sich einzig in der Art des Selbstbetrugs und des Verharrens in der Unkenntnis ihrer Leben unterscheiden. Tiere wissen nicht, was sie tun: Sie werden geboren, gedeihen, leben und sterben, ohne wirklich nach-, zurück- oder vorauszudenken. Wie viele Menschen aber leben anders als Tiere? Wir alle schlafen und unterscheiden uns nur in dem, was wir träumen, und in der Intensität und Qualität unserer Träume. Wer weiß, vielleicht weckt uns der Tod, doch auch diese Frage können wir nicht beantworten, es sei denn mit dem Glauben, für den glauben haben heißt, mit der Hoffnung, für die wünschen besitzen heißt, und mit der Nächstenliebe, für die geben bekommen heißt.