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Es regnet an diesem kalten, traurigen Winternachmittag, als regnete es bereits seit Weltbeginn so eintönig. Es regnet, und als beuge der Regen meine Gefühle nach vorne, heften sie ihren beschränkten Blick auf den Boden der Stadt, über den Wasser rinnt, das nichts nährt, nichts reinwäscht und nichts erfreut. Es regnet, und ich komme mir mit einem Mal wie ein unendlich bedrücktes Tier vor, das nicht weiß, was es ist, das seine Gedanken und Emotionen träumt, in eine räumliche Region des Seins verkrochen wie in eine Höhle, und das mit ein wenig Wärme zufrieden ist wie mit einer ewigen Wahrheit.

392

Das Volk ist ein braver Bursche.

Das Volk ist nie menschenfreundlich. Das besondere Kennzeichen dieses Volk genannten Wesens ist das strenge Augenmerk, das es auf seine eigenen Interessen richtet, und, sofern möglich, das sorgsame Ausschalten fremder Interessen.

Wenn das Volk seine Traditionen einbüßt, dann sind die gesellschaftlichen Bande zerrissen; und wenn die gesellschaftlichen Bande reißen, reißt auch das gesellschaftliche Band zwischen dem Volk und jener Minderheit, die anders ist als das Volk. Und wenn das Band zwischen Minderheit und Volk reißt, bedeutet dies das Ende für Kunst und wahre Wissenschaft und das Erlöschen jener Triebkräfte, deren Existenz unentbehrlich ist für die Zivilisation.

Existieren heißt verleugnen. Was bin ich heute, ich, der ich heute lebe, wenn nicht die Verleugnung dessen, was ich gestern war, dessen, der ich gestern war? Existieren heißt sich widerrufen. Nichts verkörpert das Leben besser als Zeitungsmeldungen, die heute widerrufen, was die Zeitung gestern verbreitet hat.

Wollen heißt nicht können. Wer konnte, wollte, ehe er konnte, konnte aber erst danach. Wer will, wird niemals können, denn er verliert sich im Wollen. Ich denke, diese Prinzipien sind grundlegend.

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… armselig wie die Lebensziele für die wir leben, ohne sie wirklich anzustreben.

Die meisten Menschen, wenn nicht alle, leben ein armseliges Leben; armselig in all seiner Fröhlichkeit, armselig in fast all seinem Leid, nur nicht in dem, das auf dem Tod beruht, denn in ihm wirkt das Mysterium mit.

Durch den Filter meiner Unaufmerksamkeit dringen Geräusche herauf zu mir, vereinzelt und fließend, in Wellen, aus dem Zufall entstanden und dem Außen, als entstammten sie einer anderen Welt: Rufe von Verkäufern, die Natürliches feilbieten, wie Gemüse, oder Soziales, wie Lotterielose; das runde Rollen von Rädern – rasch vorüberholpernde Fuhrwerke und Karren; Automobile, lauter das Fahrgeräusch als die Rotation der Motoren; das Ausschütteln von etwas Lappigem an irgendeinem Fenster; das Pfeifen eines Jungen; Gelächter im Stockwerk über mir; das metallische Ächzen der Elektrischen in der Nebenstraße; das, was an Vermischtem aus der Querstraße aufsteigt; ein Mischmasch an Lautem, Leisem und Stillem; das dumpfe Dröhnen des Verkehrs; ab und an Schritte; Stimmen, einsetzend, gleichbleibend, verebbend – und all das existiert für mich, der ich es schlafend denke, wie ein Stein, der die Welt von einem Stück Gras aus betrachtet, zu dem er nicht gehört.

Und nebenan die häuslichen Geräusche zusammen mit den anderen: Schritte, Tellerklappern, Besen, ein jäh unterbrochenes Lied (ein Fado vielleicht?); ein abendliches Balkonstelldichein, der Ärger über Fehlendes auf dem Tisch; die Bitte um die Zigaretten auf der Kommode – all das ist Wirklichkeit, die anaphrodisische Wirklichkeit, die nicht in meine Phantasie dringt.

Leicht, die Schritte der jungen Dienstmagd: Pantoffeln, die ich im Geist wieder vor mir sehe, rot-schwarz betreßt, und in diesem Sehen ist etwas rot-schwarz Betreßtes vernehmbar; sichere, feste Stiefelschritte, der Sohn des Hauses geht aus, verabschiedet sich mit einem lauten »Bis später«, und die zuschlagende Tür trennt das »Bis« vom nachfolgenden »Später«, plötzliche Stille, als stünde die Welt still in diesem vierten Stock; Geschirr, das man sich anschickt zu spülen; einlaufendes Wasser; »habe ich dir nicht gesagt, daß …«, und die Stille setzt sich fort in dem Tuten, das hochhallt vom Fluß.

Und ich werde schläfrig, denke und verdaue. Habe Zeit zwischen Synästhesien. Und wunderbar ist der Gedanke, daß, würde man mich jetzt fragen, was ich wollte in diesem kurzen Leben, ich antworten würde: nichts Besseres als diese langsamen Minuten, dieses Fehlen jeglichen Denkens, Fühlens, Handelns, ja, fast der sinnlichen Wahrnehmung selbst, dieser Totgeburt eines ausschweifenden Willens. Und dann denke ich, fast ohne zu denken, daß die meisten Menschen, wenn nicht alle, so leben, ob oben oder unten, ob in Bewegung oder Stillstand, immer sind sie träge im Hinblick auf letzte Ziele, immer geben sie Vorsätze auf, immer empfinden sie das Leben als gleich. Immer wenn ich eine Katze in der Sonne sehe, denke ich an die Menschheit. Immer wenn ich jemanden schlafen sehe, denke ich, alles ist Schlaf. Immer wenn jemand mir sagt, er habe geträumt, frage ich mich, ob dieser Mensch wohl jemals daran gedacht hat, daß er immer nur geträumt hat. Die Straßengeräusche werden lauter, als sei eine Tür aufgegangen, ich höre es läuten.

Es war nichts, die Tür ging gleich wieder zu. Die Schritte verhallten am Ende des Flurs. Die Teller erheben die Stimme – ein Widerklang von Wasser und Geschirr. […]

Ein Lastwagen fährt vorüber, die hinteren Räume vibrieren, und da alles ein Ende hat, stehe ich auf aus meinem Denken.

394

Und so, wie ich träume, denke ich auch nach, wenn ich will, es ist nur eine andere Art des Träumens.

Prinz glücklicherer Stunden, einst war ich deine Prinzessin, und unsere Liebe war eine Liebe anderer Art, deren Erinnerung mich schmerzt.

395

So sanft, so ätherisch, glich die Stunde einem Altar, geschaffen zum Gebet. Das Horoskop unserer Begegnung mußte im Zeichen günstiger Konstellationen stehen – so seidig, so subtil war die unbestimmte Substanz des flüchtigen Traumes, der sich mit unserem Bewußtsein zu fühlen vermischte. Unsere bittere Überzeugung, daß es nicht lohne zu leben, war gänzlich vergangen wie ein beliebiger Sommer. Und der Frühling, von dem wir uns – wenngleich dies ein Trugschluß war – vorstellen konnten, wir hätten ihn gekannt, erwachte zu neuem Leben. Uns auf erbärmliche Weise ähnlich, klagten auch die Weiher unter den Bäumen, die Rosen in den unbeschatteten Beeten und die unbestimmte Melodie des Lebens – verantwortungslos.

Alles Wissen, alles Ahnen ist umsonst. Die Zukunft ist ein Nebel, der uns einhüllt, und kaum erkennen wir das Morgen, schmeckt es nach dem Heute. Meine Schicksale: die Clowns, von der Truppe zurückgelassen, in einem Mondlicht nicht heller als auf Landstraßen und in den Blättern nur das Säuseln eines leichten Windes, die Ungewißheit der Stunde und das Säuseln, das wir zu hören glauben. Ferner Purpur, fliehende Schatten, der nie zu Ende geträumte Traum und der Zweifel, daß der Tod ihn je beendet, die Strahlen einer sterbenden Sonne, die Lampe im Haus am Hang, die Nacht, die Angst, der Geruch des Todes in den Büchern und draußen das Leben, grün duftend die Bäume in der Weite der Nacht, bestirnter noch jenseits des Hügels. So fanden deine Bitternisse ihr wohlwollendes Bündnis; deine wenigen Worte verliehen dieser Reise königliche Würde, von der nie ein Schiff wiederkehrte, selbst die wirklichen nicht; und der Lebensrauch beraubte alles seiner Gestalt, ließ nur Schatten zurück und Ränder, traurige Wasser unheilvoller Seen zwischen Buchsbaumtoren, von weitem an Watteau erinnernd, tiefe Angst und ein Nie-wieder. Jahrtausende, nur jene, in denen du kommst, doch dein Weg ist nicht gewunden, und du wirst nie ankommen können. Becher nur für den unvermeidlichen Schierlingstrunk – nicht dein Leben, sondern das Leben aller; und selbst die Straßenlaternen, die geheimen Winkel, der matte Flügelschlag, den wir einzig hören, da in dieser ruhelosen, erstickten Nacht unser Denken sich langsam aufschwingt und löst von seiner Angst. Gelb, schwarz-grün, liebesblau – alles tot, liebste Amme, alles tot, und alle Schiffe sind das Schiff, das nie die Segel setzt! Bete für mich, und vielleicht existiert Gott, da ich es bin, für den du betest. Leise, ganz leise, fern der Quell, ungewiß das Leben, der Rauch, der sich auflöst über dem Weiler, in dem es dunkelt, getrübt das Gedächtnis, weit weg der Fluß … Schenke mir Schlaf, schenke mir Vergessen, Herrin ungewisser Bestimmungen, Mutter aller Liebkosungen und aller Segnungen, unvereinbar mit ihrer eigenen Existenz …