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Im Grunde ist nichts von alledem stoisch. Der Adel meines Leides ist nur in den Worten erkennbar. Ich jammere wie ein krankes Dienstmädchen. Bin zänkisch wie eine Hausfrau. Mein Leben ist durch und durch nichtig und trist.

399

Wie Diogenes den Alexander bat ich das Leben nur, es möge mir aus der Sonne gehen. Ich hegte Wünsche, aber den Grund, sie zu hegen, sprach man mir ab. Was ich fand, wäre mehr wert gewesen, hätte ich es wirklich gefunden. Der Traum […]

Auf Spaziergängen formuliere ich so manch vollkommenen Satz, an den ich mich, kaum wieder zu Hause, nicht mehr erinnern kann. Ich weiß nicht, ob die unsagbare Poesie dieser Sätze gänzlich auf dem beruht, was sie waren, oder auf dem, was sie nie waren.

Ich zaudere immerzu, weiß oft nicht warum. Doch wie oft suche ich als mir entsprechende gerade Linie die am wenigsten kurze Verbindung zwischen zwei Punkten, indem ich diese Gerade im Geiste für ideal erkläre. Ich habe mich nie auf ein aktives Leben verstanden. Ich habe immer falsch gemacht, was keiner je falsch machte; was andere wie von selbst taten, kostete mich stets Mühe. Ich habe mir immer gewünscht, mir gelänge, was anderen fast wunschlos gelang. Zwischen mir und dem Leben stand stets eine trübe Scheibe: Ich habe das weder mit meinen Augen noch mit meinen Händen bemerkt; ich habe weder das Leben noch einen Lebensentwurf gelebt, ich war nur der Tagtraum dessen, was ich sein wollte, und mein Traum begann in meinem Willen, mein Ziel war stets die erste Vorstellung dessen, was ich niemals war.

Ich habe nie herausgefunden, ob meine Empfindsamkeit zu groß war für meinen Verstand oder mein Verstand zu groß für meine Empfindsamkeit. Ich kam immer zu spät, ob für die Empfindsamkeit oder den Verstand, weiß ich nicht, vielleicht für beide, oder aber etwas drittes kam zu spät.

Träumer von Idealen [?] – Sozialisten, Altruisten, Menschenfreunde jeglicher Art – bereiten mir körperlichen Ekel, im Magen. Sie sind Idealisten ohne Ideal. Denker ohne Gedanken. Sie wollen die Oberfläche des Lebens, da sie dem Müll verfallen sind, der auf dem Wasser treibt und für schön erachtet wird, denn auch leere Muscheln treiben auf dem Wasser.

400

Eine teure Zigarre mit geschlossenen Augen rauchen – das ist reich sein.

Wie einer, der an den Ort seiner Jugend zurückkehrt, kann ich mich mit einer billigen Zigarette vollständig an den Ort meines Lebens zurückversetzen, an dem ich solche Zigaretten rauchte. Das milde Aroma des Rauchs läßt meine gesamte Vergangenheit erneut lebendig werden.

Es kann auch eine bestimmte Süßigkeit sein. Ein schlichtes Schokoladenbonbon wirkt mitunter verheerend auf meine Nerven, durch das erschütternde Übermaß an Erinnerungen. Ja, die Kindheit! Und während sich meine Zähne in die dunkle, weiche Masse graben, kaue und koste ich das bescheidene Glück als fröhlicher Kamerad meiner Bleisoldaten, als Reiter, dem jedes Schilfrohr als Pferd zupaß kam. Tränen treten mir in die Augen, und zusammen mit der Schokolade schmecke ich mein verflossenes Glück, meine verlorene Kindheit, und gebe mich wohlig der Süße meines Schmerzes hin.

Die Einfachheit kann diesem Ritual meines Gaumens nichts von seiner Feierlichkeit nehmen.

Aber es ist der Rauch einer Zigarette, der mir Vergangenes am stärksten im Geiste wiedererschließt. Er streift nur das Bewußtsein meines Gaumens. So erweckt er, dichter und intensiver, alle jene Stunden, die ich starb zu neuem Leben, macht sie gegenwärtig, liegen sie länger zurück, vernebelt sie, umzingeln sie mich, vergeistigt sie, gebe ich ihnen Gestalt. Eine Mentholzigarette, eine billige Zigarre umwölken manchen dieser Augenblicke sanft. Mit welch subtiler und einleuchtender Kombination aus Aroma und Geschmack ich diese toten Szenerien auch wiederbelebe und erneut mit den Farben der Vergangenheit versehe, immer sind sie so sehr 18. Jahrhundert in ihrer trägen maliziösen Distanzierung, immer so mittelalterlich in ihrem unabänderlich Verlorenen!

401

Ich verlieh meiner Schmach Glanz und wurde überreich an Schmerz und Vergehen. Ich habe kein Gedicht gemacht aus meinem Schmerz, doch eine feierliche Prozession. Und von dem Fenster aus, das zu mir geht, betrachte ich mit Staunen die purpurroten Sonnenuntergänge, die unbestimmten Dämmerungen grundlosen Schmerzes, durch die im Ritual meines Irrens all die Gefahren ziehen, die Bürden und Versäumnisse meiner angeborenen Unfähigkeit zu leben. Das Kind in mir – nichts hat es töten können – wohnt noch immer begeistert und bunt betreßt der Zirkusvorstellung bei, die ich selbst mir gebe. Es lacht über die Clowns, wie es sie nur im Zirkus gibt; betrachtet Zauberkünstler und Akrobaten, als seien sie das Leben selbst. Und so schläft freudlos, doch zufrieden, zwischen den vier Wänden meines Zimmers mit seiner häßlich zerschlissenen Tapete, unschuldig all die ungeahnte Qual einer übervollen Menschenseele, all die unheilbare Verzweiflung eines von Gott verlassenen Herzens.

Ich gehe nicht durch die Straßen, ich gehe durch meinen Schmerz. Und die Häuserzeilen sind all jene Verständnislosen, die meine Seele bedrängen; […] meine Schritte hallen wider auf dem Pflaster wie lächerliches Totengeläut, erschreckend in der Nacht, endgültig wie eine Quittung oder ein Grab.

Ich löse mich von mir und sehe, ich bin der Grund eines Brunnens.

Der ich niemals war, ist gestorben. Der ich hätte sein sollen, ist von Gott vergessen. Ein leeres Interludium bin ich.

Wäre ich Musiker, schriebe ich meinen eigenen Trauermarsch, und ich täte gut daran!

402

Wiederwerden in einem Stein, in einem Staubkorn – er weint mir in der Seele, dieser Wunsch.

Ich finde immer weniger Geschmack an allen Dingen, selbst daran, an nichts Geschmack zu finden.

403

Ich finde mir keinen Sinn … Das Leben lastet … Alle Emotion ist mir zuviel … Mein Herz ein Privileg Gottes …

Welch festlich vergangene Prozessionen rufen jenen Überdruß vergessenen Glanzes in mir wach, der meine Wehmut einwiegt?

Und welche Baldachine, welche Sternenfolge, welche Lilien, Wimpel, Kirchenfenster?

Welch schattig geheimnisvollen Weg nahmen unsere schönsten Träume, die sich so lebhaft der Zypressen, des Buchsbaums und des Wassers dieser Welt erinnern und doch keine Baldachine finden für ihre Festumzüge, es sei denn im Gefolge des Verzichts?

Kaleidoskop

Sprich nicht … Du bist zu sehr Ereignis … Hätte ich dich doch nicht vor Augen! … Wann endlich bist du nur noch sehnsüchtige Erinnerung? Wie viele wirst du noch sein, bis dem so ist! Wie lange noch muß ich mir vorstellen, du seist eine alte Brücke, über die keiner mehr geht … Das ist Leben. Die anderen haben ihre Ruder sinken lassen … Die Kohorten ihre Disziplin verloren … Die Reiter brachen auf im Morgengrauen, und das Klirren ihrer Lanzen … Deine Burgen verlangte es wieder nach Leere … Kein Wind ließ ab von den Baumreihen auf dem Berg. Nutzlos die Säulenhallen, verwahrt das Tafelgeschirr, Vorzeichen von Prophezeiungen – all dies ist Teil der besiegten Dämmerungen in Tempeln und nicht Teil unserer Begegnung im Jetzt, denn keinen Grund gibt es, daß Linden Schatten spenden, nur deine Finger und ihre späte Geste …

Zahllos die Gründe für ferne Gebiete … Verträge, ausgehandelt von Glasfensterkönigen … Lilien religiöser Gemälde … Wen erwartet das Gefolge … Wohin schwang sich der verirrte Adler auf?