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Robert Silverberg

Das Buch der Veränderungen

Am frühen Morgen des zweiten Tages seines neuen Lebens als Gefangener stand Aithin Furvain am schmalen Fenster seiner Schlafkammer und blickte auf das blutrote Wasser des Barbirike-Sees hinaus, der weit unter ihm lag. Er hörte, wie der Riegel, der seine Gemächer versperrte, von außen umgelegt wurde, und drehte sich kurz um. Der Banditenhauptmann Kasinibon, der ihn gefangen hielt, kam geschmeidig wie eine Katze herein. Furvain drehte sich wieder zum Fenster.

»Wie ich schon gestern Abend sagte, hat man hier einen wirklich wundervollen Ausblick, nicht wahr?«, erklärte Kasinibon. »Auf ganz Majipoor gibt es nichts, was sich mit diesem roten See messen könnte.«

»Er ist gewiss schön anzuschauen«, sagte Furvain zurückhaltend und ohne irgendeine Regung.

Kasinibon ließ sich die gute Laune nicht verderben. »Ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen«, versicherte er Furvains Rücken, »und dass Ihr Eure Gemächer hier bequem findet, Prinz Aithin.«

Irgendein Rest von Höflichkeit, der selbst einem Banditen gegenüber nicht völlig wegfallen durfte, brachte Furvain dazu, sich zu dem Mann umzudrehen. »Gewöhnlich führe ich meinen Titel nicht«, sagte er steif und kalt.

»Aber natürlich. Ich halte es übrigens genau wie Ihr. Ihr müsst wissen, dass ich einer alten Adelsfamilie im Osten entstamme. Kein Hochadel, aber immerhin, wir sind adlig. Andererseits sind diese Titel natürlich auch schrecklich altmodische Dinge.« Kasinibon grinste. Es war ein verschlagenes, beinahe schon verschwörerisches und höhnisches Grinsen, dennoch aber charmant. Furvain brachte es nicht wirklich über sich, den Mann zu hassen. »Ihr habt allerdings meine Frage noch nicht beantwortet. Ist hier alles zu Eurer Zufriedenheit?«

»O ja, gewiss doch. Es ist zweifellos das eleganteste Gefängnis, das man sich nur wünschen kann.«

»Ich würde freilich gern einwenden, dass es sich hier eigentlich nicht um ein Gefängnis, sondern eher um eine Privatresidenz handelt.«

»Das mag ja sein, aber ich bin hier trotzdem gefangen — oder etwa nicht?«

»Darin muss ich Euch wohl Recht geben. Ihr seid derzeit in der Tat ein Gefangener. Mein Gefangener.«

»Vielen Dank«, erklärte Furvain. »Ich weiß Eure Aufrichtigkeit zu schätzen.«

Er blickte wieder zum Barbirike-See hinaus. Schlank wie ein Speer erstreckte sich das Gewässer im Tal unterhalb der grauen Klippen, auf denen Kasinibons festungsähnliche Behausung stand. Lange Reihen von Dünen mit schmalen Graten säumten das Ufer. Auch sie waren rot, und aus dieser Entfernung wirkten sie weich gezeichnet wie Wolken.

Sogar die Luft hatte hier einen roten Schimmer, und selbst die Sonne schien sich ein wenig zu verfärben. Kasinibon hatte Furvain, der allerdings nicht sonderlich an solchen Erklärungen Anteil nahm, schon am Vortag erläutert, dass der See von Barbirike einst mit Myriaden von winzigen Krustentieren bevölkert war, deren zerbrechliche Schalen sich über die Jahrtausende zersetzt und dem Gewässer seine blutrote Farbe verliehen hätten. Auch die roten Sanddünen bestanden daraus. Furvain fragte sich, ob sein königlicher Vater, der eine geradezu überwältigende Begeisterung für starke Farbwirkungen aufgebracht hatte, jemals hier heraus zu diesem Ort gereist war. Gewiss hatte er eine solche Reise unternommen, ganz gewiss.

»Ich habe Euch Stifte und Papier mitgebracht«, sagte Kasinibon. Er legte alles auf dem kleinen Tisch neben Furvains Bett ordentlich bereit. »Wie ich schon sagte, müsste dieser Ausblick eigentlich Eure dichterische Schaffenskraft inspirieren.«

»Das wird er zweifellos tun«, stimmte Furvain immer noch mit distanzierter, unbeteiligter Stimme zu.

»Wollen wir uns heute Nachmittag den See etwas näher ansehen? Ihr und ich?«

»Demnach habt Ihr nicht die Absicht, mich ständig hier eingesperrt zu halten?«

»Aber nein. Wie könnte ich so grausam sein?«

»Nun gut, ich würde mich über einen Ausflug zum See freuen«, erklärte Furvain, abermals so gleichgültig wie zuvor. »Vielleicht regt mich seine Schönheit tatsächlich zu dem einen oder anderen Gedicht an.«

Kasinibon tippte liebevoll auf den Papierstoß. »Vielleicht möchtet Ihr diese Blätter auch verwenden, um die Lösegeldforderung für Euch zu formulieren.«

Furvain kniff die Augen zusammen. »Das werde ich womöglich morgen erledigen. Oder übermorgen.«

»Wie Ihr wünscht. Ihr wisst ja, Eile ist nicht vonnöten. Ihr könnt als mein Gast hier bleiben, solange Ihr wollt.«

»Genauer gesagt, als Euer Gefangener.«

»Auch das«, stimmte Kasinibon zu. »Mein Gast, aber auch mein Gefangener, obgleich ich hoffe, dass Ihr Euch eher als Gast denn als Gefangener fühlt. Ihr wollt mich jetzt bitte entschuldigen, ich muss mich um langweilige Verwaltungsgeschäfte kümmern. Bis heute Nachmittag also.« Er grinste ein letztes Mal und ging.

* * *

Furvain war der fünfte Sohn des früheren Coronals Lord Sangamor, dessen bekannteste Leistung der Entwurf der bemerkenswerten, nach ihm benannten Tunnel auf dem Burgberg war. Lord Sangamor war ein Mann mit starken künstlerischen Neigungen, und die Tunnel, deren Wände aus einer Art künstlichem Stein gebaut waren, der in verschiedenen Farben leuchten konnte, wurden von Kennern als herausragende Kunstwerke betrachtet. Furvain hatte die ästhetischen Neigungen seines Vaters geerbt, jedoch nicht dessen Charakterstärke. In den Augen vieler Menschen auf dem Burgberg war er nichts weiter als ein Taugenichts, ein Müßiggänger oder gar ein Gauner. Seine eigenen Freunde, deren er viele hatte, kamen in Verlegenheit, wenn sie an ihm irgendwelche besonderen Verdienste hervorheben sollten. Zwar war er ein ungewöhnlich gewandter Autor amüsanter Verse und reizender Gefährte für eine Reise oder einen Abend in der Schenke, und auch wenn es um ironische Sticheleien, Rätsel und Scherzfragen ging, wusste er sich gut zu schlagen. Doch sonst… ja, sonst…

Der Sohn eines Coronals kann sich aufgrund der überlieferten Verfassung keinerlei Hoffnungen machen, in der Verwaltung des Planeten irgendeine bedeutende Rolle zu spielen. Für ihn ist kein Platz vorgesehen. Er kann nicht selbst den Thron besteigen, weil die Krone stets durch Adoption und nie durch Vererbung weitergegeben wird. Der älteste Sohn des Coronals richtet sich gewöhnlich in einem schönen Anwesen in einer der Fünfzig Städte auf dem Burgberg ein und lebt das behagliche Leben eines Provinzfürsten. Der zweite und der dritte Sohn können auf der Burg bleiben und als Berater des Reichs dienen, falls sie irgendeine Eignung für die komplizierten Regierungsgeschäfte vorzuweisen haben. Ein fünfter Sohn aber, erst spät in der Amtszeit seines Vaters geboren und daher von allen, die vor ihm da waren, aus dem inneren Kreis herausgedrängt, hat gewöhnlich nur die Aussicht, ein zielloses Leben voller unverbindlicher Freuden und Vergnügungen zu führen. Im öffentlichen Leben ist keine Aufgabe für ihn vorgesehen. Zwar ist er der Sohn seines Vaters, doch aus sich selbst heraus ist er nichts. Niemand wird ihm eine besondere Eignung für ernsthafte Pflichten unterstellen, ja, nicht einmal tieferes Nachdenken über derlei Dinge vermuten. Einem solchen Prinzen steht dank seiner Geburt das Recht zu, Zeit seines Lebens auf der Burg eine Suite zu bewohnen und eine großzügige lebenslange Pension zu beziehen. Man nimmt ganz allgemein an, dass solche Männer sich voller Zufriedenheit und bis ans Ende ihrer Tage angenehmen Zerstreuungen hingeben.

Im Gegensatz zu anderen Prinzen von eher unruhigem Wesen hatte Furvain sich sehr gut in diese Aussichten gefügt. Da niemand viel von ihm verlangte, erwartete er auch selbst nicht viel von sich. Die Natur hatte ihm ein gutes Aussehen geschenkt — er war groß und schlank, ein anmutiger und eleganter Mann mit gewelltem blondem Haar und fein gezeichneten Gesichtszügen. Er war ein ausgezeichneter Tänzer und wusste mit klarer, hoher Tenorstimme recht gut zu singen, er schlug sich vortrefflich in den meisten Leibesübungen, die keinen Einsatz von roher Körperkraft erforderten, und wusste sich auch im Schwertkampf und beim Wagenrennen zu behaupten.