Выбрать главу

Kasinibon bemerkte schließlich, dass Furvain schon lange schwieg und offenbar tief in Gedanken war. »Was wir hier sehen, ist der reine Stoff, aus dem die Dichtung ist, nicht wahr?«, fragte er mit einer ausholenden Geste, die das Ufer, den Himmel und seine eigene Festung einschloss, die hinter ihnen in der Ferne dunkel auf dem Hügel hockte.

Nach einer halben Meile hielten sie an. Es sah hier genauso aus wie dort, wo sie ihren Ritt begonnen hatten. Vor und hinter ihnen, überall war das gleiche Rot, eine unveränderliche scharlachrote Welt. »Ich schöpfe immer wieder neue Inspirationen daraus, und Euch wird es gewiss nicht anders ergehen. Ihr werdet hier Euer Meisterwerk schreiben. Das ist sicher.«

Die Begeisterung, die in seiner Stimme lag, war nicht misszuverstehen. Er will das Gedicht unbedingt haben, dachte Furvain. Doch die Art, wie der kleine Mann in seine Gedanken eindrang, störte ihn, und er zuckte zusammen, als sein »Meisterwerk« erwähnt wurde. Furvain wollte nichts mehr über Meisterwerke hören, nicht nach den quälenden Eingebungen der letzten Nacht, in dem sein eigenes Bewusstsein ihn wegen seiner Unzulänglichkeiten zu verspotten schien und ihm ein edles Werk vorgaukelte, das zu erschaffen er doch nicht genügend Seelenkraft besaß.

»Ich fürchte, die Poesie lässt mich im Augenblick im Stich«, sagte er kurz angebunden.

»Sie wird schon zurückkehren. Nach allem, was Ihr mir berichtet habt, weiß ich doch, dass Euch das Verfassen von Gedichten sozusagen im Blut liegt. Hat es denn jemals eine längere Zeit gegeben, in der Ihr überhaupt nichts erschaffen habt? Und sei es nur eine Woche gewesen?«

»Wohl nicht. Ich kann es aber nicht genau sagen. Die Dichtung kommt eben, wenn sie kommt, und sie hat ihren eigenen Rhythmus. Ich habe im Grunde kaum darauf geachtet.«

»Eine Woche, zehn Tage, zwei Wochen — die Worte werden schon kommen«, sagte Kasinibon. »Ich bin ganz sicher, dass sie kommen.« Er redete sich in Verzückung. »Aithin Furvains große Dichtung, geschrieben in seiner Zeit als Gast bei Master Kasinibon von Barbirike! Darf ich vielleicht sogar hoffen, dass Ihr mir eine Widmung hineinschreibt? Oder wäre ein solcher Wunsch zu kühn?«

Es wurde unerträglich. Wollte das denn überhaupt nicht enden? Diese Forderungen von aller Welt, er möge seinem unwilligen Geist ein großes Werk entlocken?

»Ich fürchte, ich muss Euch noch einmal widersprechen«, sagte Furvain. »Ich bin euer Gefangener, Kasinibon. Nicht Euer Gast.«

»Wenigstens sagt Ihr dies ohne Groll, wie mir scheint.«

»Was könnte Groll mir nützen? Doch wenn man festgehalten wird, um Lösegeld zu fordern…«

»Lösegeld ist so ein hässliches Wort, Furvain. Ich verlange doch nur, dass Eure Angehörigen die Gebühren bezahlen, die ich fürs Durchqueren meines Gebiets erhebe, da Ihr außerstande scheint, sie selbst zu entrichten. Nennt es meinetwegen Lösegeld, aber der Begriff beleidigt mich.«

»Dann ziehe ich dies natürlich zurück«, sagte Furvain, der nach wie vor seinen Zorn so gut wie möglich hinter mühsam gespielter Munterkeit verbarg. »Ich bin ein Mann von hoher Geburt, Kasinibon. Nichts läge mir ferner, als meinen Gastgeber zu beleidigen.«

* * *

Am Abend speisten sie zusammen in einem großen, nur von Kerzen erhellten Saal. Eine ganze Schar schweigsamer Hjorts in bunten Livreen wartete ihnen auf und stelzte mit jener absurden Großartigkeit herein und hinaus, welche die Angehörigen dieses eher unschönen Volks gern annahmen. Es sollte ein üppiges Festmahl werden — zuerst ein Kompott aus Früchten von einer Art, die Furvain nicht kannte, dann pochierter Fisch mit einem köstlichen Geschmack in einer dunklen Soße, die mit Honig gesüßt war, danach mehrere Sorten gegrilltes Fleisch auf gedünstetem Gemüse. Auch die Wahl der Weine, die zu jedem Gang gereicht wurden, war nicht zu beanstanden. Gelegentlich bemerkte Furvain Grüppchen anderer Gesetzloser, die als Schatten weit entfernt durch den Gang am anderen Ende des Raumes huschten, doch niemand kam in ihre Nähe.

Angeregt vom Wein, sprach Kasinibon freimütig über sich selbst. Er schien beinahe verzweifelt darauf aus, die Freundschaft seines Gefangenen zu gewinnen. Er sei, sagte er, auch selbst ein nachgeborener Sohn, nämlich der dritte Sohn des Grafen von Kekkinork. Furvain kannte keine Stadt dieses Namens. »Sie liegt einen Fußmarsch von zwei Stunden vom Großen Meer entfernt«, erklärte Kasinibon. »Meine Vorfahren kamen dorthin, um den schönen blauen Stein, der Meeresspat genannt wird, abzubauen. Der Coronal Lord Pinitor benutzte ihn damals als Schmuck für die Mauern der Stadt Bombifale. Als die Arbeit getan war, beschlossen einige Bergleute, nicht zum Burgberg zurückzukehren. Seitdem leben sie dort in Kekkinork in einem Dorf am Strand des Großen Meeres. Ein freies Volk außerhalb des Einflussbereichs von Pontifex und Coronal. Mein Vater, der Graf, war der sechzehnte Inhaber dieses Titels, der in gerader Abstammungslinie übertragen wurde.«

»Ein Titel, den Lord Pinitor verliehen hat?«

»Ein Titel, den sich der erste Graf selbst verliehen hat«, erklärte Kasinibon. »Wir sind die Nachkommen einfacher Bergleute und Steinmetzen, Furvain. Aber wenn man nur weit genug zurückgeht, muss man natürlich auch fragen, welcher Lord auf dem Burgberg denn von sich behaupten kann, er habe keinen Tropfen Blut von Gemeinen in seinen Adern.«

»Das ist wahr«, stimmte Furvain zu. Allerdings war es auch von Herzen belanglos. Viel wichtiger war ihm der Hinweis, dass der schmächtige bärtige Mann, der mit ihm am Tisch saß, tatsächlich mit eigenen Augen das Große Meer gesehen hatte. Er war in einem entlegenen Gebiet Majipoors, das man allgemein bestenfalls als Legende bezeichnete, zum Manne gereift. Die Vorstellung, dass es dort draußen irgendwo tatsächlich eine nennenswerte Stadt gab, die den Geographen und Schätzern entgangen war, tausende Meilen vom Burgberg entfernt in einer fernen Gegend im Osten Alhanroels gelegen, stellte die Gutgläubigkeit auf eine harte Probe. Dass dieser Ort zudem gar einen Adelsstand von eigenen Gnaden besaß, wahrscheinlich mit Grafen und Marquis und allem, was dazugehörte, und außerdem auch noch sechzehn Generationen lang überlebt hatte — auch das war schwer zu glauben.

Kasinibon füllte ihre Weinschalen auf. Furvain hatte den ganzen Abend über so zurückhaltend wie möglich getrunken, doch Kasinibons Gastfreundschaft war unerbittlich, und mit der Zeit spürte Furvain, wie seine Wangen heiß wurden. Er war am Ende ein wenig benommen, und Kasinibon hatte bereits den glasigen Blick eines Betrunkenen.

Er hatte auf eine weitschweifige, gewundene Weise zu erzählen begonnen, und Furvain konnte kaum folgen, als er etwas über einen erbitterten Familienstreit erfuhr, über einen Streit mit dem älteren Bruder wegen einer Frau, der großen Liebe seines Lebens vielleicht, und über ein Gesuch an den Vater, worauf dieser zugunsten des anderen Bruders entschieden habe. Die Geschichte kam Furvain freilich recht vertraut vor — der Bruder, der alles an sich zog, der ferne, gleichgültige adlige Vater, der den jüngsten Sohn mit beiläufiger Geringschätzung behandelte. Doch da Furvain weder besonderen Ehrgeiz noch viel Temperament besaß, hatten diese Enttäuschungen seine Jugend nicht wirklich überschatten können. Er lebte von je in dem Gefühl, dass er für seinen tatkräftigen Vater und die habgierigen, kämpferischen Brüder mehr oder weniger unsichtbar war. Er rechnete bestenfalls mit Gleichgültigkeit von ihrer Seite und war nicht überrascht, dass er genau dies bekam. So hatte er sich selbst ein halbwegs befriedigendes Leben eingerichtet, das letztlich auf der Überzeugung beruhte, man werde, je weniger man erwartete, umso weniger Unzufriedenheit mit dem Leben entwickeln.

Kasinibon dagegen war aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Er war hitzköpfig und zielstrebig, und seine Auseinandersetzung mit dem Bruder war mit großer Schärfe geführt worden und hatte schließlich sogar zu einem körperlichen Angriff Kasinibons geführt — ob auf den Bruder oder den Vater, wusste Furvain nicht genau zu sagen. Schließlich hatte Kasinibon es jedenfalls für ratsam gehalten, aus Kekkinork zu fliehen, oder vielleicht war er auch vertrieben worden — auch hier war Furvain nicht sicher —, und er war viele Jahre umhergestreift, bis er hier in Barbirike den Ort fand, an dem er eine Befestigung anlegen und sich gegen jeden verteidigen konnte, der es etwa wagte, seine unfreiwillige Unabhängigkeit infrage zu stellen.