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Er fand bald heraus, dass die Inspirationen nicht so einfach gerufen werden konnten. Wenigstens nicht, wenn er sich eine Aufgabe wie diese vorgenommen hatte. Seine früheren Methoden versagten. Um aufzufinden, was er jetzt brauchte, musste er regelrecht schürfen. Er musste den Stoff genau im Blick behalten und aufmerksam verarbeiten. Er musste ihn in die Form seines Werks zwingen. Er schrieb, wie es schien, ein Gedicht über Lord Stiamot. Nun gut. Dann musste er sich mit jeder Faser seines Seins diesem uralten Herrscher verschreiben. Er musste über die Zeitalter hinwegblicken und eine Verbindung zu Stiamot herstellen, er musste seine Seele berühren und seinem Weg folgen.

Das war leichter gesagt als getan. Die Unzulänglichkeit seines historischen Wissens machte ihm zu schaffen. Er wusste über Stiamots Leben und Aufstieg nicht mehr als ein Schuljunge, und dieses Wissen, sofern man es überhaupt so nennen konnte, war nach so vielen Jahren verschwommen und vergessen. Wie konnte er sich da anmaßen, die Geschichte dieser großen Auseinandersetzung zu schreiben, in der die Bedrohung durch die Ureinwohner ein für alle Mal behoben und die menschliche Besiedlung Majipoors in größerem Rahmen ermöglicht wurde?

Entsetzt über seine Bildungslücken plünderte er Kasinibons Bibliothek und hoffte, einige historische Werke zu finden. Doch wie es schien, war die Geschichtsschreibung für seinen Entführer kein besonders wichtiges Thema. Furvain fand keine bedeutenden Arbeiten, nur eine kurze Geschichte der Welt, die nicht mehr als ein Kinderbuch zu sein schien. Einer Inschrift auf dem Einband entnahm er, dass es sich tatsächlich um ein Überbleibsel aus Kasinibons Kindheit in Kekkinork handelte. Es enthielt nur wenig Nützliches und bot kaum mehr als eine kurze, stark vereinfachte Zusammenfassung — Lord Stiamots Versuche, mit den Metamorphen einen Frieden auszuhandeln, das Scheitern dieser Versuche und die Entscheidung des Coronals, den Zerstörungen, die von den Metamorphen in den Städten der menschlichen Siedler angerichtet wurden, ein Ende zu setzen und die Gegner im offenen Kampf zu besiegen, um sie aus den von Menschen besiedelten Gebieten zu vertreiben und für alle Zeit im Regenwald des südlichen Zimroel festzusetzen. Dies hatte die Welt in einen generationenlangen Kampf verwickelt, der schließlich im Sieg der Menschen endete und das explosive Bevölkerungswachstum auf Majipoor sowie den Wohlstand dieses ganzen riesigen Reichs erst möglich machte. Stiamot war eine Schlüsselfigur in Majipoors Geschichte. Doch Kasinibons kleines Geschichtsbuch gab diese Geschichte nur in groben Umrissen wieder und erwähnte die Politik Stiamots und die Schlachten, aber kein Wort über ihn als Mann, kein Wort über seine Gedanken und Gefühle, sein Aussehen. Nichts dergleichen.

Dann wurde Furvain bewusst, dass er diese Dinge eigentlich auch nicht wissen musste. Er schrieb ein Gedicht und kein Geschichtswerk oder eine Lebensbeschreibung. Er hatte jede Freiheit, sich alle Einzelheiten auszumalen, wie er wollte, solange er sich nur weitgehend an den überlieferten Ablauf hielt. Ob Lord Stiamot tatsächlich klein oder groß, dick, dünn, fröhlich oder ein sauertöpfischer Grübler war, spielte für einen Dichter, der nur Stiamots Legende erschaffen wollte, keine Rolle. Lord Stiamot war inzwischen eine Sagengestalt geworden, und Sagen, das wusste Furvain, hatten mehr Kraft als bloße Geschichtsschreibung. Die Geschichte konnte so willkürlich sein wie die Dichtkunst, sagte er sich. Ist denn Geschichtsschreibung nicht lediglich eine Frage der Auswahl? Man wählt bestimmte Fakten aus einer Vielzahl von Ereignissen aus, um einen aussagekräftigen Zusammenhang zu finden, der aber nicht unbedingt der Wirklichkeit entspricht. Die Kunst, gewisse Fakten auszuwählen, beinhaltete natürlich zwangsläufig auch, andere Fakten zu verwerfen, etwa solche, die den von einem Historiker als wichtig eingestuften Zusammenhang nicht bestätigten. So wurde die Wahrheit eine verschiebbare Größe — drei verschiedene Historiker, die mit den gleichen Überlieferungen arbeiteten, kamen womöglich zu drei ganz unterschiedlichen »Wahrheiten«.

Die Mythen aber beziehen sich auf die grundlegende Wirklichkeit des Geistes, auf die unendliche Quelle, die man als gemeinsames Bewusstsein eines ganzen Volks verstehen kann, und stoßen zu einer Ebene vor, auf der die Wahrheit keine bloße Möglichkeit ist, sondern eine unerschütterliche Grundlage von allem anderen. In diesem Sinne konnten die Mythen sogar mehr Wahrheit enthalten als die Geschichtsschreibung.

Wenn ein Dichter nun Episoden erfand, die sich an das Wesen der Stiamot-Überlieferung hielten, dann vermochte er die Wahrheit der Geschichte auf eine Weise offen zu legen, die kein Historiker je erreichen konnte. So beschloss Furvain, dass sein Gedicht den Mythos Stiamots und nicht die historische Person behandeln werde. Er hatte die Freiheit zu erfinden, was er wollte, solange er nur der inneren Wahrheit der Geschichte treu blieb.

Danach wurde alles viel leichter, obwohl er keinesfalls hätte sagen können, dass es eine einfache Aufgabe war. Er entwickelte eine Meditationsform, die es ihm erlaubte, am Rande des Schlafs auszuharren und in eine Art Trancezustand zu wechseln. Dann — es ging mit jedem Tag schneller — kam Furvains Führer, der Mann mit dem blonden Haar und dem Diadem des Coronals, und führte ihn durch die Szenen und Ereignisse, die es an diesem Tag aufzuschreiben galt.

Der Name seines Führers, so erfuhr Furvain, lautete Valentine. Er war ein charmanter Mann, geduldig und liebenswürdig und von freundlichem Gemüt, immer ein entspanntes Lächeln auf den Lippen. Der beste Führer, den man sich nur wünschen konnte. Furvain konnte sich nicht an einen Coronal namens Valentine erinnern, und auch Kasinibons altes Geschichtsbuch erwähnte diesen Namen nicht. Offenbar hatte es eine Person dieses Namens nie gegeben. Doch das spielte keine Rolle. Für Furvains Zwecke war es völlig gleichgültig, ob Lord Valentine eine historische Gestalt oder nur eine Phantasieschöpfung war. Er brauchte jemanden, der ihn an der Hand nahm und durchs Schattenreich der Frühgeschichte führte, und genau das tat dieser Führer mit dem blonden Haar. Es war beinahe, als sei dieser Mann die Manifestation der göttlichen Schau, zu deren Künder Furvain werden sollte, in einer leicht wahrnehmbaren Form. Durch die Stimme dieses phantasierten Lord Valentine, so sagte Furvain sich, schreibt der gestaltende Geist des Kosmos das Gedicht in meine Seele.

Unter Valentines Anleitung erfuhr Furvains träumendes Bewusstsein von den Tagen des Lord Stiamot. Es begann mit der Erkenntnis, dass der lange, kräftezehrende Kampf gegen die Metamorphen ein Ende finden musste. Dann folgte eine Reihe von immer blutigeren Schlachten, die im Niederbrennen der nördlichen Landesteile ihren traurigen Höhepunkt fanden. Die letzten Rebellen der Ureinwohner gaben auf, und in Zimroel wurde die Provinz Piurifayne für alle Zeiten als Reservat der Gestaltwandler auf Majipoor eingerichtet. Wenn Furvain Tag für Tag aus seiner Trance erwachte, waren die Einzelheiten dessen, was er erfahren hatte, noch vorhanden, ebenso wie die Balance, die Gestalt und der tragische Rhythmus, den eine große Dichtung braucht. Er sah nicht nur die Ereignisse, sondern auch die erbittert gehegten unvermeidlichen Gegensätze, aus denen sie entstanden waren, bis selbst ein milder Mann wie Stiamot sich zur grausamen Notwendigkeit eines Krieges gezwungen sah. Der Grundriss der Geschichte war vorhanden, Furvain musste sie nur noch niederschreiben, und auf dieser Ebene konnte er nun seine dichterischen Fertigkeiten so zur Geltung bringen, wie er es auch früher stets getan hatte. Die fein gegliederte Ordnung von Strophen und Rhythmen, die er aus den ersten geträumten Begegnungen mit dem Göttlichen mitgebracht hatte, wurde ihm schon bald zur zweiten Natur, und das Gedicht wuchs rasch und wurde jeden Tag weiter ergänzt.