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Kasinibon machte zu Furvains Überraschung nicht einmal den Versuch, die Anschuldigung zurückzuweisen. »Oh, dann habt Ihr es bemerkt? Aber natürlich. Ich konnte einfach nicht widerstehen.« Seine Augen glänzten vor Aufregung. »Es ist wundervoll, Furvain. Wundervoll. Ich war so bewegt, dass ich kaum erwarten konnte, es Euch zu sagen. Die Episode mit Lord Stiamot und der Metamorphen-Priesterin — als sie vor ihm steht und um ihr Volk weint, bis auch Stiamot weinen muss…«

»Ihr hattet nicht das Recht, in meinem Schrank zu wühlen«, sagte Furvain eisig.

»Warum denn nicht? Ich bin hier der Herr. Ich tue hier, was mir gefällt. Ihr habt nur gesagt, dass Ihr nicht über ein unvollendetes Werk sprechen wollt. Daran habe ich mich gehalten, oder nicht? Habe ich auch nur ein Wort gesagt? Kein einziges! Seit Tagen schon lese ich, was Ihr schreibt, sogar schon fast von Anfang an. Ich verfolge täglich Eure Fortschritte und nehme Anteil an der Erschaffung einer großen Dichtung, und mir sind die Tränen in die Augen geschossen ob ihrer Schönheit, und doch habe ich Euch nie darauf angesprochen… nicht ein einziges Mal…«

Furvains Wut wurde nur noch größer. »Dann schnüffelt Ihr schon länger in meinem Zimmer herum?«, stammelte er verblüfft.

»Jeden Tag. Und schon lange, bevor Ihr dieses Spiel mit den Stiften begonnen habt. Es ist doch so, Furvain — eine klassische Dichtung, eines der größten Meisterwerke der Literatur, wird gerade unter meinem eigenen Dach von einem Mann geschaffen, den ich speise und beherberge. Und nun soll mir die Freude versagt bleiben, dieses Werk wachsen und gedeihen zu sehen?«

»Ich verbrenne es lieber«, erklärte Furvain, »als zu dulden, dass Ihr mir noch einmal nachspioniert.«

»Nun seid doch kein Narr. Schreibt einfach weiter. Ich werde es nicht mehr in die Hand nehmen. Aber Ihr dürft nicht aufhören, falls Ihr daran denken solltet. Das wäre ein Verbrechen gegen die Kunst. Beendet die Melikand-Szene. Schreibt die Geschichte über Dvorn. Und fahrt fort, bis Ihr alles aufgeschrieben habt.« Er lachte verschlagen. »Ihr könnt ja ohnehin nicht aufhören. Das Gedicht hat Euch in seinen Bann geschlagen. Es hat von Euch Besitz ergriffen.«

Furvain starrte ihn böse an. »Wie wollt Ihr das wissen?«

»Ich bin nicht so dumm, wie Ihr glaubt«, erwiderte Kasinibon.

Dann lenkte er ein und bat um Verzeihung und versprach noch einmal, seine übermäßige Neugierde auf das Manuskript fortan zu beherrschen. Er schien ehrlich zu bereuen, und er schien sogar zu fürchten, dass er durch sein Eindringen in Furvains Privaträume die Vollendung des Gedichts gefährdet hatte. Er könnte es sich nie verzeihen, sagte er, wenn Furvain dies zum Anlass nähme, das Werk aufzugeben. Doch er würde es andererseits auch Furvain immer vorwerfen. Und dann, wieder energischer: »Ihr werdet damit fortfahren. Ihr werdet es tun. Ihr könnt einfach nicht aufhören!«

Furvain konnte angesichts einer so klugen Einschätzung seines Charakters nicht mehr wütend sein. Es war klar, dass Kasinibon Furvains innere Faulheit genau erkannte, dieses tiefe Bedürfnis, sich auf eine ehrgeizige und anstrengende Arbeit von dieser Größenordnung am liebsten gar nicht erst einzulassen. Doch Kasinibon sah auch das Gedicht, das Furvain in seinen Bann geschlagen hatte. Es hatte ihn mit unerbittlichem Griff gepackt, und selbst ein Müßiggänger wie er konnte diesem starken inneren Drang, der jeden Tag einen neuen Abschnitt der Dichtung ins Leben rief, nicht widerstehen. Dieser Drang kam aus ihm selbst, aus einem Gefilde, das nicht einmal Furvain selbst betreten konnte. Auch war Furvain mehr als bewusst, dass da noch Kasinibons heißes Begehren war, das Werk vollendet zu sehen. Furvain konnte sich dem Anpeitscher Kasinibon, der ein ohnehin schon starkes Verlangen weiter verstärkte, nicht widersetzen. Es kam also nicht in Frage, die Arbeit aufzugeben.

»Ja, ich fahre damit fort«, sagte er widerwillig. »Keine Sorge. Aber bleibt meinem Zimmer fern.«

»Einverstanden.«

Als Kasinibon sich zurückziehen wollte, rief Furvain ihn noch einmal zurück. »Noch etwas. Gibt es etwas Neues aus Dundilmir hinsichtlich meiner Lösegeldforderung?«

»Nein, bisher noch nichts«, erwiderte Kasinibon und verließ rasch den Raum.

Nichts Neues. Damit habe ich gerechnet, dachte Furvain. Tanigel hat die Nachricht weggeworfen. Oder sie lachen jetzt bei Hofe darüber — man stelle sich vor, der arme dumme Furvain, von Banditen gefangen!

Er war sicher, dass Kasinibon keine Antwort von Tanigel bekommen würde. Deshalb schien es geraten, neue Lösegeldforderungen zu formulieren — eine an seinen Vater im Labyrinth, eine an Lord Hunzimar auf der Burg, einige andere vielleicht an andere Leute, falls ihm noch jemand einfiel, der ihm möglicherweise helfen würde — und dann sollte Kasinibon die Boten aussenden.

Unterdessen setzte Furvain seine tägliche Arbeit fort. Der Trancezustand kam jetzt immer einfacher, der geheimnisvolle Lord Valentine erschien, wann immer er gerufen wurde, und führte ihn bereitwillig durch die Zeit in die Morgendämmerung der Welt zurück. Das Manuskript wuchs. Die Stifte wurden nicht wieder angerührt. Nach einer Weile machte Furvain sich nicht mehr die Mühe, sie überhaupt noch hinzulegen.

Jetzt sah der Dichter die Gestalt des Werks deutlich.

Es sollte neun große Abschnitte bekommen, die vor seinem inneren Auge auf einem Bogen angeordnet waren. Die Teile, die Stiamot betrafen, bildeten seinen Scheitel. Der erste Gesang behandelte die Ankunft der ersten menschlichen Siedler auf Majipoor, die voller Hoffnung das sorgenvolle Leben auf der Alten Erde hinter sich gelassen hatten und auf dieser wundervollsten aller Welten ein Paradies erschaffen wollten. Die ersten zögerlichen Erkundungen des Planeten und die Ehrfurcht angesichts seiner Größe und Schönheit wurden behandelt, dann die Gründung der ersten winzigen Vorposten. Im zweiten Gesang wollte Furvain dann das Wachstum der Vorposten zu Dörfern und Städten schildern, den Zank zwischen den Städten, der in den folgenden hundert Jahren herrschte., die sich ausweitenden Kämpfe, die schließlich den Zusammenbruch jeglicher Ordnung nach sich zogen, und das Aufkommen von Aufruhr und Gesetzlosigkeit.

Der dritte Gesang sollte Dvorn gewidmet sein: Wie er sich aus dem Chaos erhob, ein Provinzfürst aus der im Westen gelegenen Stadt Kesmakuran, wie er quer durch Alhanroel marschierte und in jeder Stadt Leute um sich scharte, die ihm halfen, eine verlässliche Herrschaft aufzubauen, unter der die ganze Welt geeint werden konnte. Wie er diese Regierungsform kraft seiner Persönlichkeit, aber auch mit Waffengewalt durchsetzte — die nicht erbliche Monarchie unter der Herrschaft eines Kaisers, der den alten Titel des Pontifex trug: Der »Brückenbauer«, der sich einen königlichen Untergebenen, den Lord Coronal aussuchte, damit dieser als ausführende Gewalt der Regierung dienen und ihm letztlich als Pontifex nachfolgen konnte. Furvain wollte erzählen, wie Dvorn und sein Coronal, Lord Barhold, die Unterstützung von ganz Majipoor gewonnen und das Staatsgebilde errichtet hatten, unter dem die Welt heute noch gedieh.

Dann der vierte Gesang. Ein Zwischenteil, der die Entstehung dessen, was man als das moderne Majipoor bezeichnen konnte, aus der ursprünglich von Dvorn gegründeten Gemeinschaft schildern sollte. Die Konstruktion der Atmosphärenmaschinen, die es möglich machten, den dreißig Meilen hohen Berg zu besiedeln, der später als Burgberg bezeichnet werden sollte, sowie die Gründung der ersten Städte an seinen unteren Hängen. Lord Melikands Einsicht, dass die menschliche Bevölkerung allein nicht ausreichen werde, um eine Welt von der Größe Majipoors nachhaltig zu befrieden, woraufhin er Skandar, Vroon, Hjorts und die anderen außerirdischen Völker einlud, Seite an Seite mit der Menschheit zu leben. Die erbitterten Kämpfe zwischen Menschen und Metamorphen, als die recht geringe Zahl der Ureinwohner sich durch die wachsenden neuen Siedlungen aus ihrem eigenen Gebiet verdrängt sah. Der Beginn der Kriege.