Doch vor allem tat er sich beim Verseschmieden hervor. Schier in Strömen floss die Dichtung aus ihm heraus, wie der Regen vom Himmel fällt. Zu jeder Tages- und Nachtzeit, ob er nach einem langen Zechgelage am Vorabend gerade erwacht oder noch mitten beim Zechen selbst war, er konnte jederzeit den Stift zur Hand nehmen und beinahe aus dem Stegreif zu jedem beliebigen Thema eine Ballade, ein Sonett, eine Villanelle oder auch ein lustiges gereimtes Epigramm verfassen, vielleicht auch einige rasch hingeworfene Knittelverse oder sogar ein langes Heldengedicht. Diese eilig heruntergeschriebenen Texte besaßen natürlich keine große geistige Tiefe. Es entsprach auch nicht seiner Art, die Tiefen der menschlichen Seele zu erkunden, ganz zu schweigen davon, solche Einsichten in Form von Gedichten zu verbreiten. Doch jedermann wusste, dass Aithin Furvain sich vor niemandem verstecken musste, wenn es darum ging, leichte, verspielte Verse zu schmieden, in denen die Freuden des Augenblicks gefeiert wurden, die Freuden des Betts etwa oder der Flasche — Verse, die Witz besaßen, ohne jemals an boshafte Satire zu grenzen, oder die vornehmlich als Collage aus Rhythmus und Klang gedacht waren und nicht viel zu bedeuten hatten.
»Mach uns ein Gedicht, Aithin!«, mochte jemand aus dem Kreis seiner Freunde rufen, wenn sie beim Wein in der Burgschänke hockten. »Ja!«, stimmten die anderen zu. »Ein Gedicht, ein Gedicht!«
»Dann soll mir einer ein Wort geben«, erwiderte Furvain.
Und irgendjemand, vielleicht seine derzeitige Geliebte, rief beispielsweise: »Wurst.«
»Sehr schön. Und du — gib du mir noch ein weiteres Wort. Das Erstbeste, das dir einfallen will.«
»Pontifex«, sagte jemand anders.
»Und noch eins«, verlangte Furvain. »Du da hinten.«
»Steetmoy«, lautete die Antwort eines Freundes, der ganz hinten saß.
Daraufhin starrte Furvain einen Augenblick in seinen Weinkelch, als könne er dort ein Gedicht herausfischen, holte tief Luft und begann gleich darauf ein spöttisches Heldenlied zu rezitieren — mit sauber gebauten Hexametern und einem komplizierten anapästischen Rhythmus —, das von der verzweifelten Sehnsucht eines Pontifex nach Würsten aus Steetmoy-Fleisch handelte, sodass die faulsten und feigsten Angehörigen des königlichen Hofstaats auf eine Jagdexpedition in den Norden Zimroels in die verschneite Heimat dieser gefährlichen weißen Pelzwesen ausgesandt wurden. Ohne abzusetzen sprach er acht oder zehn Minuten lang, bis die Geschichte erzählt war, die — obgleich improvisiert — einen regelrechten Beginn, einen Mittelteil und ein umwerfend komisches Ende hatte, was ihm einen Beifallssturm und eine neue Flasche Wein einbrachte.
Hätte er sich je die Mühe gemacht, sie aufzuheben, dann hatten die gesammelten Werke des Aithin Furvain viele Bände gefüllt. Doch er hatte die Angewohnheit, seine Gedichte so schnell wegzulegen, wie er sie schrieb, und viele von ihnen wurden überhaupt nicht niedergeschrieben. Nur der Umsicht seiner Freunde war es zu verdanken, dass einige von ihnen notiert und kopiert und im Land verteilt wurden. Doch das war ihm nicht wichtig. Gedichte zu erfinden fiel ihm so leicht wie das Atmen, und er sah keinen Grund, seine schnellen Improvisationen aufzubewahren und in besonderen Ehren zu halten. Schließlich waren sie ja von vornherein nicht als große Kunstwerke gedacht wie etwa die Tunnel seines königlichen Vaters.
Der Coronal Lord Sangamor hatte unter dem Pontifex Pelxinai fast dreißig Jahre lang als Majipoors jüngerer Monarch recht erfolgreich geherrscht, bis der ehrwürdige Pelxinai schließlich vom Göttlichen zur Quelle gerufen wurde und Sangamor den Platz des Pontifex einnehmen musste. Diese neue Aufgabe brachte es mit sich, dass er den Burgberg verließ und ins unterirdische Labyrinth umzog, das weit im Süden lag. Es war der von der Verfassung vorgesehene Sitz des älteren Herrschers. Den Rest seines Lebens über würde man ihn kaum noch in der Außenwelt sehen. Aithin Furvain hatte seinen Vater nicht lange nach dessen Einsetzung als Pontifex pflichtschuldigst besucht, wie man es von ihm und seinen Brüdern eben erwartete, doch er beabsichtigte nicht, noch eine weitere derartige Reise zu machen. Das Labyrinth war ein dunkler, bedrückender Ort, der ihm überhaupt nicht zusagte. Auch dem alten Sangamor gefiel es dort wohl nicht besonders, nahm Furvain an, doch wie alle Coronals hatte auch Sangamor von Anfang an gewusst, dass er den letzten Teil seines Lebens dort verbringen würde. Furvain war dagegen nicht verpflichtet, dort zu leben, und er musste den Ort nicht einmal besuchen, wenn er es nicht wollte. So sah Furvain, der seinen Vater bislang ohnehin nicht besonders gut gekannt hatte, keinen Grund, ihn noch ein weiteres Mal zu treffen.
Andererseits hatte er sich bereits weitgehend aus dem Leben auf der Burg gelöst. Schon während Lord Sangamor noch dort regierte, hatte Furvain sich ein zweites Zuhause in Dundilmir eingerichtet, einer Hangstadt weit unten am Fuß des riesigen, wie ein Reißzahn aufragenden Burgbergs. Ein Schulkamerad und alter Freund namens Tanigel hatte sein Erbe als Herzog von Dundilmir angetreten und Furvain dort unten einen Wohnsitz angeboten, ein relativ bescheidenes Anwesen, das die als Feuertal bezeichnete Region überblickte. Furvain wurde so im Grunde Herzog Tanigels Hofnarr, ein freundlicher Gefährte, der auf Verlangen komische Verse zum Besten geben konnte. Es entsprach nicht unbedingt der Tradition, dass der Sohn eines Coronals von einem bloßen Herzog ein Landgut geschenkt bekam, doch Tanigel war bewusst, dass der fünfte Sohn eines Coronals nicht unbedingt über ein großes eigenes Vermögen verfügte, und er wusste auch, dass Furvain des eingefriedeten Lebens auf der Burg überdrüssig war und für seinen Müßiggang eine neue, freiere Umgebung suchte. Furvain, der nicht viel auf Würde gab, hatte Tanigels Vorschlag erfreut angenommen und den größten Teil der folgenden Jahre auf seinem Anwesen in Dundilmir verbracht und mit Tanigel und dessen wohlhabenden, trink- und handfesten Freunden seine Zeit totgeschlagen. Nur bei höchst formellen Anlässen wie zum Geburtstag seines Vaters ließ er sich noch auf der Burg blicken, doch nachdem sein Vater zum Pontifex ernannt und ins Labyrinth umgezogen war, tauchte er dort kaum noch auf.
Selbst das angenehme Leben in Dundilmir wurde ihm nach einer Weile zu eintönig. Furvain war inzwischen in mittleren Jahren und bekam ein Gefühl, das ihn noch nie heimgesucht hatte, eine unbestimmte nagende Unzufriedenheit, die er nicht näher einzuordnen wusste. Es gab natürlich nichts Bestimmtes, worüber er sich hätte beklagen können. Er hatte ein gutes Leben voller Zerstreuungen, angenehme Freunde, die ihn wegen seines an sich unbedeutenden, jedoch vortrefflich ausgeübten Talents bewunderten. Er war bei bester Gesundheit und verfügte über genügend Mittel, um seine laufenden Ausgaben zu bestreiten, die im Grunde gar nicht so groß waren. Er empfand nur selten Langeweile und litt nie Mangel an Gefährten oder Geliebten. Und doch meldete sich hin und wieder ein eigenartiger Schmerz in seiner Seele, ein unerklärliches elendes Gefühl. Es war eine ganz eigenartige neue Stimmung, beunruhigend und nicht zu begreifen.
Vielleicht liegt die Antwort im Reisen, überlegte Furvain. Er war ein Bürger des größten, prächtigsten und schönsten Planeten im ganzen Universum, doch bisher hatte er noch nicht viel davon gesehen. Er kannte nur den Burgberg und selbst dort höchstens ein Dutzend der Fünfzig Städte sowie das liebliche, aber nicht besonders aufregende Glayge-Tal, durch das er auf dem Weg zum neuen Heim seines Vaters im Labyrinth gefahren war. Doch es gab so viele Dinge, die man besichtigen konnte: die legendären Städte im Süden, Orte wie Sippulgar und das goldene Arvyanda, Kertheron mit seinen vielen Türmen, die Pfahldörfer am silbernen Roghoiz-See und hunderte oder gar tausende von anderen Orten, die wie funkelnde Edelsteine über den gewaltigen Kontinent Alhanroel verteilt waren. Außerdem gab es noch den zweiten Hauptkontinent Zimroel, über den er so gut wie nichts wusste. Weit entfernt auf der anderen Seite des Meeres warteten wundervolle Städte, deren Namen nach einem Märchenland klangen. Ein ganzes Menschenleben hätte nicht ausgereicht, all diese Plätze zu besuchen.