Doch am Ende wandte er sich in eine ganz andere Richtung. Herzog Tanigel, der das Reisen liebte, hatte mehrmals davon gesprochen, eine Reise in den Osten zu unternehmen, in das leere und weitgehend unerforschte Gebiet, das zwischen dem Burgberg und den Gestaden des ebenfalls unerforschten Großen Meeres lag. Zehntausend Jahre waren vergangen, seit die ersten menschlichen Siedler sich auf Majipoor niedergelassen hatten, und diese Zeit hätte ausgereicht, um eine Welt von normaler Größe zu füllen. Doch Majipoor war so groß, dass die Siedler selbst nach jahrhundertelangem stetigem Bevölkerungswachstum noch nicht in allen entfernten Regionen Fuß gefasst hatten. Der Weg der Entwicklung hatte vom Herzen Alhanroels aus vor allem nach Westen geführt und dann über das Innere Meer hinweg, das Alhanroel von Zimroel trennte. Von einigen unerschrockenen Wanderern abgesehen, hatte noch niemand den Versuch unternommen, nach Osten vorzustoßen. Es gab dort draußen auf dem Land eine schäbige kleine Stadt namens Vrambikat, die in einem nebligen Tal quasi im Schatten des Berges lag, doch jenseits des Ortes bestanden anscheinend keine weiteren Siedlungen — oder jedenfalls keine, die man auf den Listen der Steuereinnehmer des Pontifex fand. Möglicherweise fand sich noch hier und dort ein Dorf, vielleicht aber auch nicht. Doch diese dünn besiedelte Region barg eine ganze Reihe von Naturwundern, die nur aus den Erinnerungen kühner Forscher bekannt waren. Der rote See von Barbirike oder die Seenplatte, die »Tausend Augen« genannt wurde, ein riesiges mäanderndes Tal, das »Schlangenkluft« hieß, dreitausend Meilen lang oder noch länger und von unergründlicher Tiefe, und noch viele weitere — die Mauer der Flammen, das Juwelennetz, der Springbrunnen des Weins, die Tanzenden Hügel. Ein großer Teil davon war womöglich als reines Märchen zu betrachten, als Erfindung von phantasievollen, aber wenig vertrauenswürdigen Wanderern. Herzog Tanigel regte nun an, eine Expedition in diese geheimnisvollen Gebiete zu unternehmen. »Immer weiter und weiter bis zum Großen Meer!«, rief er. »Wir nehmen den ganzen Hofstaat mit. Wer weiß, was wir dort finden? Und du Furvain — du sollst über alles, was wir sehen, einen Bericht schreiben und alles in einem unvergesslichen Epos festhalten, das für alle Zeiten als Klassiker gelten wird!«
Herzog Tanigel tat sich zwar darin hervor, großartige Vorhaben zu verkünden und bis ins Kleinste auszutüfteln, doch wenn es darum ging, sie zu verwirklichen, war er weitaus weniger gewissenhaft. Einige Monate lang grübelten der Herzog und seine Höflinge über Karten, studierten die Berichte von Forschern, die schon hunderte oder gar tausende von Jahren alt waren, und entwarfen großartige Pläne ihrer eigenen Reisen durch eine Gegend, die im Grunde eine weglose Wildnis war. Furvain ging ganz und gar in diesem Unternehmen auf und träumte oft davon, wie ein großer Vogel über einer noch nicht entdeckten Landschaft von unvorstellbarer Schönheit und Fremdartigkeit zu schweben. Er sehnte den Tag des Aufbruchs herbei. Die Reise in den Osten des Landes, dies wurde ihm nun bewusst, erfüllte ein Bedürfnis, das er bisher noch nie in sich verspürt hatte. Der Herzog setzte unterdessen seine endlosen Planungen für die Reise fort, ohne jemals ein Datum für den Aufbruch bekannt zu geben, bis Furvain schließlich annehmen musste, dass die Expedition wohl niemals stattfände. Dem Herzog war an der Reise gar nicht gelegen, ihn begeisterte nur die Planung. So beschloss Furvain, der noch nie eine weite Strecke allein gereist war und die Vorstellung, einsam zu reisen, sogar unangenehm fand, eines Tages, sich ohne Begleitung in den Osten aufzumachen.
Auch er brauchte freilich einen letzten Anstoß, der schließlich aus gänzlich unerwarteter Richtung kommen sollte.
In der beunruhigenden Zeit voller Zögern und Unsicherheiten, die seinem Aufbruch vorausging, besuchte er auch die Burg, um die Karten einiger Forscher einzusehen, die angeblich in der königlichen Bibliothek aufbewahrt wurden. Doch auf der Burg eingetroffen, verspürte er eine große Unlust, sich in die unergründlichen Weiten der Bibliothek zu begeben, und besuchte stattdessen die berühmten Tunnel seines Vaters, die sich am Westhang des Bergs in einer Felsnadel befanden, die ihrerseits viele hundert Fuß hoch aus dem Hauptberg emporwuchs.
Lord Sangamor hatte die Tunnel in Form einer langen, spiralförmigen Rampe bauen lassen, die sich im Inneren der Felsnadel nach oben wand. In den geheimen Schmieden und Werkstätten der königlichen Künstler, tief unter der Burg des Coronals gelegen, hatten Sangamors Arbeiter den leuchtenden künstlichen Stein erschaffen, aus dem die Tunnel gebaut werden sollten, und ihn zu großen, vielfarbigen Platten geschmolzen. Unter der persönlichen Aufsicht des Coronals hatten dann die Steinmetze diese leuchtenden Platten zu gleichgroßen rechteckigen Fliesen geschnitten, die, in feinen farblichen Stufungen aufeinander abgestimmt, sorgfältig in die Wände und Decken der Kammern eingepasst worden waren.
Wenn man durch diese Gänge lief, wurden die Augen mit flackernden, pulsierenden Lichtern bombardiert — Schwefelgelb in diesem Raum, Safran im nächsten, Topas im folgenden, dann Smaragdgrün, Kastanienbraun und auf einmal ein atemberaubender Ausbruch von Rot, dann wieder sanftere Töne wie Malve, Aquamarin und ein weiches Chartreuse. Es war eine Symphonie von Farben, ein unablässiges Strahlen von buntem Licht.
Furvain verbrachte zwei Stunden in den Gängen und ging mit wachsender Faszination und Freude von Raum zu Raum, bis er es schließlich nicht mehr aushalten konnte. Irgendwo in ihm tat sich plötzlich etwas auf, und ein Schwindelgefühl ließ ihn taumeln. Betäubt stand er inmitten der gewaltigen Ausstrahlung und Kraft der strahlenden Farben. Er zitterte und spürte ein heftiges Pochen in der Brust. Offenbar war ein rascher Rückzug angeraten. Er eilte zum Ausgang. Noch eine halbe Minute in den Gängen, dachte Furvain, und er ginge am Ende in die Knie.
Draußen angekommen, hielt er sich an einer Brüstung fest. Er schwitzte und war benommen, und es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigt hatte. Die Heftigkeit seiner Eindrücke überraschte ihn selbst. Das körperliche Unbehagen war bald vorbei, doch es blieb etwas zurück, eine Art ungreifbare Unruhe, die er jedoch nach einer Weile einordnen konnte: Die strahlende Kraft der Tunnel hatte in ihm ein Gefühl von Bewunderung geweckt, die an Ehrfurcht grenzte, das jedoch rasch einem niederschmetternden vernichtenden Gefühl von persönlicher Unzulänglichkeit gewichen war.
Er hatte diese Anlage, die sein Vater gebaut hatte, immer nur für eine hübsche Kuriosität gehalten. Doch heute, nachdem er wieder in jenen seltsamen überempfindlichen, fast geistig übersteigerten Zustand gekommen war, der in der letzten Zeit so typisch für ihn geworden war, hatte ihn eine ganz neue Achtung vor den Werken seines Vaters schier überwältigt. Furvain sah sich von etwas ergriffen, das er nicht anders denn als Demut bezeichnen konnte — ein Gefühl, mit dem er bislang nicht eben gut vertraut war. Doch andererseits, warum sollte er eigentlich keine Demut empfinden? Sein Vater hatte hier etwas Kostbares und Wundervolles hinterlassen. Trotz der anstrengenden Notwendigkeiten und der aufreibenden Pflichten der Staatsgeschäfte hatte Lord Sangamor die Kraft und Inspiration gefunden, ein künstlerisches Meisterwerk zu schaffen.
Wohingegen er selbst… ja, er selbst…
Der Eindruck, den die Tunnel bei ihm hinterlassen hatten, wirkte noch bis zum Abend nach. Statt anschließend in die Bibliothek zu gehen, verabredete er sich mit Lady Dolitha, einer früheren Geliebten, zum Abendessen. Sie trafen sich in dem luftigen Restaurant, das genau über dem großen Melikandplatz eingerichtet war. Lady Dolitha war eine zierliche und sehr schöne Frau mit dunklen Haaren, olivbrauner Haut und einem scharfen Verstand. Vor zehn Jahren hatten sie sechs Monate lang eine leidenschaftliche Affäre gehabt. Nach einer Weile hatten ihre oft zügellose Schärfe ihrer Worte, ihre große Bereitschaft, Wahrheiten zu äußern, die man normalerweise für sich behielt, und ihre ausgesprochen sarkastische Weise, diese Gedanken zum Ausdruck zu bringen, sein Verlangen nach ihr abgekühlt. Doch Furvain hatte stets die Gesellschaft kluger Frauen geschätzt und die entsetzliche Wahrheitsliebe, die ihn aus Dolithas Bett vertrieben hatte, machte sie als Freundin wiederum schätzenswert. So hatte er sich auch große Mühe gegeben, ihre Freundschaft zu erhalten, nachdem ihre Liebestreffen beendet waren. Inzwischen stand sie ihm so nahe wie eine Schwester.