Er erzählte ihr von seiner Erfahrung im Tunnel. »Wer hätte auch mit so etwas gerechnet?«, fragte er sie. »Ein Coronal, der zugleich ein großer Künstler ist!«
In Lady Dolithas Augen funkelte jene Ironie und Belustigung, die so typisch für sie war. »Warum glaubst du denn, das eine müsse das andere ausschließen? Die künstlerische Begabung ist ein Geschenk, mit dem man geboren wird. Später kann man sich dann entscheiden, einen Weg zu beschreiten, der zum Thron führt. Die Gabe bleibt jedoch erhalten.«
»Das mag sein.«
»Dein Vater strebte nach der Macht, und das kann die ganze Kraft eines Menschen in Anspruch nehmen. Doch er hat sich entschlossen, auch seine künstlerische Begabung zur Geltung zu bringen.«
»Es ist ein Zeichen seiner Größe, dass er seine Seele weit genug öffnen konnte, um beides zu tun.«
»Oder ein Zeichen dafür, dass er genügend Selbstvertrauen in sich fand. Andere Menschen treffen natürlich andere Entscheidungen, und es sind nicht immer die richtigen.«
Furvain zwang sich, ihren Blick zu erwidern, obwohl er die Augen lieber abgewandt hätte. »Was meinst du damit, Dolitha? Meinst du, es war falsch, dass ich kein Regierungsamt gewählt habe?«
Sie hielt ihre zierliche Hand vor die Lippen, um ihr amüsiertes Lächeln wenigstens teilweise zu verbergen.
»Wohl kaum, Aithin.«
»Was meinst du dann? Komm schon, sag's mir. Es ist nun wirklich kein großes Geheimnis mehr, und selbst mir ist klar, dass ich irgendwo versagt habe — oder etwa nicht? Du glaubst, ich hätte meine Begabung missbraucht, nicht wahr? Ich hätte meine Begabung beim Zechen und Spielen verschwendet und die Leute mit albernen kleinen Reimen unterhalten, während ich mich hätte einschließen und irgendein gewaltiges, tief schürfendes philosophisches Meisterwerk hätte verfassen müssen, irgendetwas Schwermütiges und Schweres und Anspruchsvolles, das alle loben und das niemand lesen will?«
»Oh, Aithin, Aithin…«
»Irre ich mich?«
»Wie kann ich sagen, was du schreiben solltest? Ich kann nur sagen, dass ich sehe, wie unglücklich du bist, Aithin. Ich sehe es schon lange. Mit dir stimmt etwas nicht, aber inzwischen wird dir das ja auch selbst allmählich klar, oder? Ich vermute, es muss mit deiner Kunst, mit deiner Poesie zu tun haben, denn sonst gibt es ja nicht viel, was dir wirklich wichtig ist, nicht wahr?«
Er starrte sie an. Es entsprach ihr völlig, so etwas von sich zu geben.
»Fahre fort.«
»Viel mehr als dies kann ich eigentlich nicht sagen.«
»Aber es gibt noch etwas, oder? Nun mach schon!«
»Es ist nichts, was ich nicht schon gesagt hätte.«
»Dann sage es noch einmal. Ich bin manchmal sehr begriffsstutzig, Dolitha.«
Er sah das winzige Beben der Nasenflügel, das er erwartet hatte, das winzige Zucken der Zunge hinter den geschlossenen Lippen. Nun war klar, dass er von ihr keine Gnade mehr erwarten konnte. Doch Gnade war ohnehin nicht das, was er an diesem Abend suchte.
»Der Weg, den du beschreitest, ist nicht der richtige Weg«, sagte sie leise. »Ich weiß nicht, welcher Weg für dich der richtige ist, aber es ist klar, dass du nicht auf ihm wandelst. Du musst dein Leben ändern, Aithin. Du musst etwas Neues und ganz anderes beginnen. Das ist alles. Du bist auf dem bisherigen Weg so weit gegangen, wie es eben möglich ist, und jetzt musst du etwas verändern. Ich dachte schon vor zehn Jahren, auch wenn es dir nicht zu vermitteln war, dass etwas in dieser Art geschehen müsse. Nun, jetzt ist es so weit. Und endlich bemerkst du es auch selbst.«
»Ja, ich glaube, das kann man so sagen.«
»Es ist Zeit, dass du aufhörst, dich zu verstecken.«
»Mich zu verstecken?«
»Vor dir selbst. Vor deinem Schicksal, wie auch immer es aussieht. Vor deinem wahren Wesen. Du kannst dich vor alledem verstecken, Aithin, aber nicht vor dem Göttlichen. Was das Göttliche angeht, so gibt es keinen Ort, an dem du unsichtbar bist. Ändere dein Leben, Aithin. Ich kann dir allerdings nicht sagen, wie.«
Er sah sie verblüfft an.
»Nein, das kannst du natürlich nicht sagen.« Er schwieg eine Weile. »Ich werde damit beginnen, dass ich eine Reise unternehme«, sagte er. »Allein. In eine ferne Gegend, wo es niemanden außer mir selbst gibt und wo ich von Angesicht zu Angesicht mir selbst begegnen kann. Dann sehen wir weiter.«
Am nächsten Morgen schob er jeden Gedanken an die königliche Bibliothek und die Landkarten, die vielleicht oder vielleicht auch nicht dort zu finden waren, endgültig beiseite. Die Zeit des Planens war vorbei, es war Zeit, einfach zu gehen.
Er kehrte nach Dundilmir zurück und verbrachte eine Woche damit, sein Haus in Ordnung zu bringen und alles zu erledigen, was für seine Reise in den Osten getan werden musste. Dann machte er sich ohne Begleitung auf und verriet niemandem, wohin er wollte. Er hatte keine Ahnung, was er dort draußen vorfände, doch er wusste, dass er auf irgendetwas stoßen würde und dass es sich für ihn als wichtig erweisen würde.
Es war, dachte er, ein richtiges Abenteuer und einer Schatzsuche nicht unähnlich. Er suchte nach dem wahren Selbst des Aithin Furvain, das ihm vor langer Zeit irgendwie abhanden gekommen war. Du musst dein Leben ändern, hatte Dolitha gesagt. Ja, genau das wollte er jetzt tun. Etwas musste sich verändern. Bisher hatte er noch nie etwas Ernsthaftes getan. In einer eigenartig aufgeräumten Stimmung machte er sich auf den Weg und achtete genau auf alle Veränderungen in seinem Bewusstsein.
Kaum eine Woche hinter der kleinen, staubigen Stadt Vrambikat wurde er von einer umherstreifenden Gruppe Gesetzloser überfallen und in Kasinibons Festung auf dem Hügel verschleppt.
Er hatte noch nicht darüber nachgedacht, dass in einem solch entlegenen Gebiet im Osten die reine Anarchie herrschen konnte, doch andererseits war es auch keine große Überraschung. Im Großen und Ganzen war Majipoor ein friedlicher Planet, auf dem die Herrscher seit Jahrtausenden mit Billigung der Untertanen regierten. Doch die Entfernungen waren so riesig und der Einfluss von Pontifex und Coronal in manchen Regionen so schwach, dass es gewiss viele Bezirke gab, in denen die Gesetzesmacht nicht mehr als ein leeres Wort war. Wenn es Monate dauerte, zwischen der Coronalsburg und dem weit entfernten Zimroel oder dem von der Sonne verbrannten Suvrael im Süden hin und her zu reisen, konnte dann überhaupt noch die Rede davon sein, dass der Arm des Gesetzes tatsächlich bis in ferne Länder reichte?
Zwar hielten sich die Leute im Allgemeinen an gemeinsame Regeln, weil sonst Mord und Totschlag losbrachen, doch es lag andererseits auch nahe, dass die Menschen in vielen Bezirken mehr oder weniger taten, was sie wollten, während sie nach außen unerschütterlich behaupteten, den Anordnungen der Herrscher Folge zu leisten.
Hier draußen, wo quasi niemand oder kaum jemand lebte und diese Herrscher noch nicht einmal den Versuch unternahmen, Stärke zu zeigen — was für eine Regierung oder was für einen Anschein von Regierung brauchte man hier überhaupt?
Seit er Vrambikat verlassen hatte, war Furvain gemächlich durch die stille Landschaft gereist. Der Burgberg bildete im Westen hinter ihm noch immer eine mächtige Wegmarke, doch allmählich begann er zu schrumpfen, und vor ihm tauchte eine dunkle Hügelkette auf. Die Landschaft schien sich über abertausende Meilen zu erstrecken. Offenes Land wie dieses ohne jeden Hinweis, dass nur eine Menschenseele hier lebte, hatte er bisher noch nie gesehen. Die Luft war klar wie Glas, der Himmel wolkenlos, das Wetter mild wie im Frühling. Weite, wogende Wiesen mit goldenem Gras, das kurze Blätter und kräftige Stängel hatte und üppig wuchs wie ein dicht geflochtener Teppich, lagen vor ihm. Hier und dort strich ein Tier von einer unbekannten Art durchs Gras, ohne Furvain zu beachten. Es war der neunte Tag seiner Reise. Die Einsamkeit war erfrischend. Sie reinigte die Seele. Je tiefer er in dieses stille Land vordrang, desto stärker wurde das Gefühl, innerlich geheilt und gereinigt zu werden.