Gegen Mittag hielt er an einer Stelle an, wo kleine, mit Felsen übersäte Berge aus dem kräftigen gelben Gras ragten. Er ließ sein Reittier ausruhen und fressen. Er hatte ein elegantes Tier mitgenommen, ein lebhaftes und schönes Rennpferd, das eigentlich für solche langsamen Wanderungen nicht gut geeignet war. Er musste oft anhalten, um das Tier wieder zu Kräften kommen zu lassen.
Furvain störte das nicht. Da er sowieso kein bestimmtes Ziel ansteuerte, gab es auch keinen Grund zur Eile.
Sein Geist flog voraus in die Leere und versuchte sich auszumalen, welche Wunder ihn dort erwarten mochten. Die Schlangenkluft beispielsweise — wie mochte sie aussehen, diese gewaltige Spalte mitten in der Welt? Lotrechte Wände, die wie Gold glänzten und so steil abfielen, dass man nicht im Traum daran denken konnte, zum Talgrund vorzustoßen, wo ein grüner Fluss rasch dahinströmte? Ein Fluss wie eine Schlange, die weder Kopf noch Schwanz zu haben schien und ewig zum Meer kroch. Die Große Sichel, dem Vernehmen nach eine schmale, gekrümmte Erhebung aus glänzendem weißem Marmor, eine vom Göttlichen geschaffene Skulptur, erhob sich in einer hellbraunen flachen Wüste völlig einsam einige hundert Fuß hoch — ein zerbrechlich wirkender Bogen, der seufzte und wie eine Harfe zirpte, wenn der Wind über seine Kante fuhr. Ein viertausend Jahre alter Bericht, der aus der Zeit Lord Stiamots stammte, behauptete, wenn man diese Anhöhe vor dem Nachthimmel sah, mit ein oder zwei schimmernden Monden über der Spitze, dann sei dies ein so schöner Anblick, dass sogar ein Skandar-Kutscher weinen müsse.
Die Fontänen von Embolain, wo donnernde Geysire Tag und Nacht alle fünfzig Minuten duftendes rosafarbenes Wasser, das weich wie Seide war, in den Himmel schossen — und dann, eine Jahresreise entfernt, oder vielleicht auch zwei oder drei, die gewaltigen Klippen aus schwarzem Stein, durchzogen von blendend hellen Adern von weißem Quarz, die den Strand des Großen Meeres überragten, jene unpassierbare Wasserfläche, die beinahe die Hälfte des riesigen Planeten bedeckte…
»Aufstehen«, sagte auf einmal eine barsche Stimme. »Du hast hier nichts zu suchen. Weise dich aus.«
Furvain war nun schon so lange in der schweigenden Wildnis allein, dass die knirschende Stimme über sein Bewusstsein hereinbrach wie ein lodernder Meteor über einen sternenlosen Himmel. Er drehte sich um und sah ein paar Schritt hinter sich zwei finster dreinblickende Männer, stämmig und urwüchsig bekleidet, auf einem niedrigen Felsvorsprung stehen. Sie waren bewaffnet. Ein dritter und ein vierter Mann bewachten ein Stück entfernt etwa ein Dutzend Reittiere, die mit einem groben gelben Strick zusammengebunden waren.
Furvain blieb ruhig. »Ich bin hier eingedrungen, sagst du? Aber diese Gegend hier gehört doch niemandem, mein Freund. Oder sie gehört jedem, der gerade hier ist.«
»Dieses Land gehört dem Master Kasinibon«, erklärte der kleinere und mürrischer dreinblickende Mann. Seine Augenbrauen bildeten eine durchgehende schwarze Linie auf der gerunzelten Stirn. Er sprach schwerfällig und mit heiserer Stimme und mit einem Akzent, der fast alle Konsonanten verschluckte. »Du brauchst seine Erlaubnis, um hier zu reisen. Wie ist dein Name?«
»Aithin Furvain aus Dundilmir«, antwortete Furvain freundlich. »Ich wäre euch dankbar, wenn ihr eurem Herrn, den ich leider nicht kenne, sagen könntet, dass ich seinem Land und seinem Besitz keinen Schaden zufügen will und dass ich ein einsamer Reisender bin, der schnell weiterziehen und nichts weiter möchte als Eindrücke…«
»Dundilmir?«, murmelte der zweite Mann. Eine dicke Augenbraue wurde gehoben. »Das ist doch eine Stadt auf dem Burgberg, wenn ich mich nicht irre. Was hat ein Mann vom Burgberg allein in dieser Gegend zu suchen? Das hier ist nicht die richtige Gegend für einen wie dich.« Und dann, mit höhnischem Bellen: »Wer bist du überhaupt? Der Sohn des Coronals?«
Furvain lächelte. »Wenn du schon fragst«, erwiderte er, »dann kann ich dir auch gleich sagen, dass ich tatsächlich der Sohn des Coronals bin. Oder besser, ich war es bis zum Tode des Pontifex Pelxinai. Der Name meines Vaters ist…«
Ein rascher Rückhandschlag streckte Furvain zu Boden. Er blinzelte erstaunt. Der Schlag war nicht einmal sehr fest gewesen, höchstens eine Ohrfeige. Es war vor allem die Überraschung, die ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Er konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben geschlagen worden zu sein, nicht einmal als Kind.
»… Sangamor«, fuhr er unwillkürlich fort, weil er sich den Satz ohnehin schon zurechtgelegt hatte. »Er war unter Pelxinai der Coronal, und jetzt ist er selbst der Pontifex…«
»Brauchst du deine Zähne noch, Mann? Ich schlage dich noch einmal, wenn du mich weiter verspottest.«
»Ich habe dir nichts als die reine Wahrheit gesagt, mein Freund«, erwiderte Furvain erstaunt. »Ich bin Aithin von Dundilmir, der Sohn Sangamors. Meine Papiere können es beweisen.«
Allmählich dämmerte ihm freilich, dass es womöglich keine sehr gute Idee war, Männern wie diesen seine königliche Abstammung zu offenbaren, doch er hatte bisher noch keinen Gedanken daran verschwendet, dass es irgendwo auf der Welt einen Ort geben könnte, an dem es unklug wäre, seine Herkunft preiszugeben. Aber es war ohnehin zu spät, seine Worte zurückzunehmen. Er konnte nicht verhindern, dass sie seine Papiere überprüften, aus denen hervorging, wer er war. So wollte er lieber davon ausgehen, dass es auch hier draußen niemand wagen würde, einem Sohn des Pontifex, und sei er nur der fünfte, die Bewegungsfreiheit zu rauben. »Ich verzeihe dir den Schlag«, sagte er zu demjenigen, der ihn niedergestreckt hatte. »Du konntest ja nicht wissen, wer ich bin. Ich werde dafür sorgen, dass dir daraus kein Nachteil entsteht. Und jetzt, bitte, bei aller Ehrerbietung für euren Master Kasinibon, ist für mich die Zeit gekommen, meinen Weg fortzusetzen.«
»Im Augenblick führt dein Weg zu Master Kasinibon«, erwiderte der Mann, der ihn geschlagen hatte. »Du kannst ihm persönlich deine Aufwartung machen.«
Sie zerrten ihn grob auf die Füße und winkten ihm, er solle auf sein Reittier steigen, das die anderen beiden — offenbar junge Pferdeknechte — bereits ans Ende der Reihe von Reittieren gebunden hatten. Jetzt erkannte Furvain auch, was er bisher noch nicht bemerkt hatte. Eine kleine Erhebung oben auf dem höchsten Berg genau über ihm war nicht natürlichen Ursprungs, sondern gehörte zu einem niedrigen Gebäude, und als sie auf einem steilen Weg, der eigentlich kaum als Weg zu bezeichnen war — es war nicht mehr als ein von Hufen aufgeschürfter Trampelpfad im Gras —, nach oben stiegen, wurde deutlich, dass es sich bei diesem Gebäude um eine nicht eben kleine Schanzanlage handelte. Eine Festung sogar, die aus dem gleichen glänzenden Stein wie der Berg selbst bestand. Sie war nur zwei Stockwerke hoch, erstreckte sich aber über ein ansehnliches Stück auf dem Bergkamm entlang.
Als der Weg, dem sie folgten, zur Seite abschwenkte, konnte Furvain besser sehen. Auf der Ostseite des Berges war das Gebäude terrassenförmig angelegt und fiel in mehreren Etagen zum Tal hin ab. Über dem Tal bemerkte er zunächst einen roten Schein am Himmel, und als sie die Bergkuppe erreicht hatten, sah er einen schmalen, langen See wie eine rote Wunde im Tal liegen. Es konnte nur der berühmte See von Barbirike sein, der zu beiden Seiten von langgezogenen Dünen von der gleichen hellroten Farbe begrenzt wurde. Master Kasinibon, wer immer dieser gesetzlose Hauptmann auch war, hatte für seine Zitadelle eine der atemberaubendsten Stellen in ganz Majipoor ausgesucht, einen fast unwirklich schönen Ort. Diese Kühnheit musste man durchaus bewundern, dachte Furvain. Der Mann mochte zwar ein Gesetzloser und sogar ein Bandit sein, aber er hatte auch etwas von einem Künstler.