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Wolfgang & Heike

Hohlbein

Das Buch

Fantasy

ISBN 3-8000-2997-9

Umschlaggestaltung von Werkstatt • München / Weiss • Zembsch

unter Verwendung einer Illustration von Peter Gric

Copyright © 2003 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien

Das Buch

Im Haus ihrer Eltern, einer alteingesessenen Buchhändlerfamilie, erlebt Leonie gespenstische Dinge: Türen tauchen aus dem Nichts auf, ein sinistrer Notar fährt in einer altmodischen Kutsche vor und aus dem Radio ertönt plötzlich die Stimme von Leonies toter Großmutter, die sie vor einer großen Gefahr warnt. Schließlich verschwinden ihre Eltern durch eine geheimnisvolle Tür im Keller des Hauses. Leonie folgt ihnen und gerät in ein gewaltiges Bücherlabyrinth, in dem Scriptoren, seltsame Kreaturen, minutiös Buch führen über das Leben der Menschen. Noch weiß Leonie nicht, dass sie über »die Gabe« verfügt und, wie einst ihre Großmutter, der uralten Gemeinschaft der Hüterinnen angehört. Doch als Unbefugte ein Buch aus dem Archiv entwenden und das Schicksal umschreiben, bahnt sich eine Katastrophe an. Nur Leonie kann die Wirklichkeit retten, doch es scheint ein fast aussichtsloser Kampf, denn der Archivar, Herrscher über die albtraumhafte Bücherwelt unter der Erde, kennt keine Gnade...

Von Mäusen und Holzköpfen

»Hier?« Irgendwie hatte Leonie das Kunststück fertig gebracht, ihren Gesichtsausdruck auf ein bloßes missbilligendes Stirnrunzeln zu reduzieren - das ihre Großmutter wahrscheinlich nicht einmal bemerkte, denn sie stand seit einer geschlagenen Minute da, starrte auf die Fassade des altehrwürdigen Gebäudes, und auf ihrem Gesicht hatte sich ein Ausdruck ausgebreitet, den Leonie nur noch als Verzückung bezeichnen konnte; auch wenn sie diese Begeisterung beim besten Willen nicht verstand. Was sie anging, erfüllte sie der Anblick mit einem Gefühl, das verdächtig nahe an blankes Entsetzen heranreichte.

Leonie räusperte sich. »Hier?«, fragte sie wieder, und diesmal gelang es ihr nicht nur, die Frage mit vollkommen ausdrucksloser Miene zu stellen, sondern sogar den leicht hysterischen Unterton aus ihrer Stimme zu verbannen.

Nicht dass es irgendeinen Unterschied gemacht hätte. Leonie war - zu Recht - stolz auf ihre schauspielerische Leistung, die Großmutter aber gar nicht zur Kenntnis nahm. Sie stand immer noch wie zur Salzsäule erstarrt da, blickte auf die gewaltige Sandsteinfassade dieses jahrhundertealten Monstrums von Haus und schien alle Mühe zu haben, nicht vor lauter Begeisterung die Fassung zu verlieren.

Und zumindest das, dachte Leonie mit einer Mischung aus Resignation und immer noch schwelendem Entsetzen, war etwas, das sie im Moment durchaus gemeinsam hatten: Auch sie selbst stand kurz davor, die Fassung zu verlieren und möglicherweise etwas sehr Dummes zu tun.

Wenn auch aus vollkommen anderen Gründen...

Leonie hob die Hand, um die juckende Stelle am Kinn zu kratzen, und ließ den Arm dann wieder sinken, ohne die Bewegung zu Ende geführt zu haben. Die Stelle, wo sie das Piercing am Morgen entfernt haue, juckte nicht nur wie wild, sie tat auch verteufelt weh - und sie war keineswegs sicher, ob sie den kleinen Chromstift so ohne weiteres wieder einsetzen konnte. Und das Allerschlimmste war: Großmutter wusste das Opfer, das Leonie für sie gebracht hatte, nicht einmal zu würdigen.

»Ja, ja, hier«, sagte Großmutter plötzlich. Leonie blinzelte und brauchte ein paar Augenblicke, um zu begreifen, dass das die Antwort auf die Frage war, die sie vor einer guten Minute - zweimal! - gestellt hatte. Anscheinend schlug der Anblick des gewaltigen Bibliotheksgebäudes die alte Frau so sehr in seinen Bann, dass sie sich nur mit Mühe auf das konzentrieren konnte, was um sie herum vorging. »Damit hast du nicht gerechnet, wie? Die Überraschung ist mir gelungen, nicht wahr? Sag schon.«

Leonie schluckte ein paarmal, nicht nur um den bitteren Speichel loszuwerden, der sich immer wieder dort sammelte, wo vor ein paar Stunden noch das Piercing gewesen war, sondern vor allem um nicht auszusprechen, was ihr wirklich auf der Zunge lag. Sie lächelte gequält. »Stimmt«, antwortete sie. »Damit habe ich wirklich nicht gerechnet.«

Das war nicht einmal gelogen.

Großmutters Gesicht hellte sich auf. Mit deutlicher Anstrengung riss sie sich vom Anblick des riesigen Gebäudes los und wandte sich Leonie zu. Ihre Augen schienen von innen heraus zu leuchten, als sie zu ihrer Enkelin hochsah - und das im buchstäblichen Sinne des Wortes. Leonie - fünfzehn, sportlich, eine gute Schülerin und (nach eigener Einschätzung) verdammt gut aussehend - war alles andere als hoch gewachsen, aber ihre Großmutter reichte ihr trotzdem nur bis zum Kinn.

»Und das Beste kommt erst noch!«, sagte Großmutter. »Die eigentliche Überraschung steht dir erst noch bevor. Wart’s nur ab!«

»So, so«, machte Leonie. Sie lächelte - wenigstens hoffte sie, dass ihre Großmutter das gequälte Verziehen der Lippen, zu dem sie sich durchrang, als Lächeln auffassen würde.

»Du wirst sehen«, versprach Großmutter nochmals. »Komm!« Sie ging los und Leonie erlebte eine weitere Überraschung. Sie kannte ihre Großmutter als zwar agile, aber dennoch alte Frau, die sich eher vorsichtig bewegte, um nicht zu sagen: betulich. Jetzt aber eilte sie mit kleinen trippelnden Schritten so schnell voraus, dass Leonie im ersten Moment Mühe hatte, überhaupt mitzukommen, als gäbe ihr der Anblick des uralten Gemäuers etwas von der Kraft zurück, die ihr die vielen Jahrzehnte abverlangt hatten, die auf ihren schmalen Schultern lasteten.

Leonie runzelte die Stirn, ein wenig verwundert über ihre eigenen Gedanken. Trotzdem beeilte sie sich weiterzugehen, um mit ihrer Großmutter Schritt zu halten. Auf der Mitte der breiten Freitreppe, die zu dem beeindruckenden, von mehr als mannshohen steinernen Säulen flankierten Eingang des Bibliotheksgebäudes hinaufführte, holte sie sie ein, konnte aber trotzdem nicht wirklich langsamer werden. Ihre Großmutter legte ein Tempo vor, das sie immer mehr in Erstaunen versetzte. Noch vor einer knappen Stunde, als sie in den Bus gestiegen waren, hatte Großmutter ihr liebe Not gehabt, die beiden Stufen hinaufzukommen, jetzt schien sie mit jedem Schritt, den sie sich dem Eingang näherten, an Kraft und Schnelligkeit zu gewinnen.

Vielleicht war es ja die Kraft der Erinnerung, überlegte Leonie. Sie selbst hatte mit Büchern nie viel am Hut gehabt - wozu auch in einer Welt, in der es Fernseher, Notebooks, Gameboys, Walkmans und MP3-Player gab? -, aber Großmutter war zeit ihres Lebens von Büchern umgeben gewesen. Sie hatte (großer Gott: vor mehr als sechzig Jahren!) eine Lehre als Buchhändlerin abgeschlossen und niemals in einem anderen Beruf gearbeitet. Die kleine Buchhandlung am Stadtrand, von der Leonies Eltern lebten und die sie eines Tages übernehmen sollte, hatte sie vor nahezu einem halben Jahrhundert gegründet, und obwohl sie mittlerweile die achtzig weit überschritten hatte, stand sie auch jetzt noch dann und wann im Laden; und sei es nur, um ein Schwätzchen mit einem Kunden zu halten.

Wobei sie beim Thema war, dachte Leonie mit einem lautlosen, aber inbrünstigen Seufzer. Buchhändler. Ihre Eltern erwarteten allen Ernstes, dass sie eine Lehre als Buchhändlerin machte und den elterlichen Laden übernahm! Dass ihre Großmutter, die eine alte Frau war und mehr in der Vergangenheit lebte als in der Gegenwart, davon träumte, sie als ihre einzige Enkelin sollte den Familienbetrieb in der dritten Generation weiterführen, das konnte Leonie ja noch halbwegs nachvollziehen. Aber ihre Eltern? Sie konnten doch nicht im Ernst annehmen, dass ein modernes, aufgeschlossenes junges Mädchen des einundzwanzigsten Jahrhunderts auch nur die Möglichkeit in Betracht zog, den Rest seines Lebens in einem muffigen, kleinen Laden zu verbringen, in den sich an manchen Tagen nur ein einziger Kunde verirrte und in dem es nichts anderes als Bücher gab! Noch dazu eine ganz besondere Art von Büchern. Nicht etwa spannende Thriller und Fantasy-Romane von Stephen King, Grisham oder Rowling, sondern uralte Schwarten - Goethe, Kleist, Shakespeare und der ganze Kram, der keinem anderen Zweck diente, als unschuldige Schüler damit zu quälen.