Ihre Großmutter stand lange so da und strich ihr übers Haar und schließlich beugte sie sich vor und hauchte Leonie einen Kuss auf die Schläfe. Ihre Lippen berührten sie nicht einmal wirklich, doch sie kamen ihr so nahe, dass sie ihre Wärme spüren konnte.
»Du armes Kind«, flüsterte Großmutter. »Wenn ich doch nur etwas tun könnte. Aber das liegt nicht mehr in meiner Macht. Ich kann nur hoffen, dass du mir eines Tages verzeihst, was ich dir angetan habe.«
Und damit richtete sie sich wieder auf, drehte sich um und verließ mit nahezu lautlosen Schritten das Zimmer.
Der Notar
Der nächste Morgen begann mit etwas, das für Leonie ebenso neu wie unangenehm war: Sie hatte verschlafen. In den neun Jahren, die sie jetzt zur Schule ging, war ihr das genau dreimal passiert, und davon war sie zweimal krank gewesen. Das dritte Mal hatte es einen Stromausfall gegeben, der die Elektrowecker des gesamten Stadtviertels lahm gelegt hatte; nahezu die halbe Klasse war an diesem Morgen zu spät - oder auch gar nicht - gekommen.
Heute leuchteten die digitalen Ziffern ihres Weckers zuverlässig und hell und sie zeigten präzise elf Minuten nach acht an. Das bedeutete, dass sie genau seit acht Minuten in der Schule sein sollte, um die erste Unterrichtsstunde zu verfolgen, Mathematik, wenn sie den Stundenplan richtig im Kopf hatte. Nicht dass sie es bedauerte, eine Mathestunde zu versäumen - schon gar nicht an diesem Morgen -, aber sie war ein bisschen erstaunt über ihre eigene Reaktion. Trotz ihres rebellischen Äußeren und ihres manchmal ganz bewusst provozierenden Auftretens war Leonie ein sehr gewissenhafter Mensch, was allein schon an ihrer Erziehung lag. Sie mochte es einfach nicht, zu spät zu kommen, und eigentlich hätte sie jetzt erschrocken aufspringen und mit wehendem Nachthemd ins Bad stürzen müssen.
Stattdessen blieb sie weiter reglos liegen und starrte den Wecker an, bis die roten Leuchtziffern um zwei Minuten weitergesprungen waren. Dann stand sie ohne irgendeine Hast auf, ging ins Bad und erledigte ihre Morgentoilette so gemächlich, als hätte sie alle Zeit der Welt. Irgendwie hatte sie sogar das Gefühl, es wäre so. Ihr Leben war in der zurückliegenden Nacht so gründlich aus den Fugen geraten, dass sie im Grunde nichts mehr von dem, was jetzt geschah, noch interessierte.
Sogar sie selbst schien sich verändert zu haben. Als sie endlich fertig war und einen abschließenden Blick in den Spiegel warf, sah sie aus wie immer: glattes hellblondes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, ein winziges Silberkreuz, das an einer dünnen Kette um ihren Hals hing und eine schicke weiße Rüschenbluse, die ihre zerbrechliche Gestalt hervorragend zur Geltung brachte. Sie trug weder Make-up noch Lippenstift oder Nagellack - viele ihrer Klassenkameradinnen schminkten sich schon seit Jahren, aber Leonie hielt nichts davon; sie war der Meinung, dass sie mindestens noch zehn Jahre Zeit hatte, bevor sie auch nur damit anfangen musste. Sie hatte das Glück, einen relativ dunklen Teint zu haben, sodass sie immer ein bisschen so aussah, als käme sie gerade von der Sonnenbank - obwohl sie so etwas natürlich niemals getan hätte.
Ja, das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, war ganz genau so, wie es sein sollte, und doch kam ihr irgendetwas daran sonderbar vor. Da schien noch etwas anderes zu sein, als existiere unter der Oberfläche des Sichtbaren noch eine zweite, verborgene Wirklichkeit, die man nicht sehen konnte, die aber in immer stärkerem Maße versuchte, sich bemerkbar zu machen.
Leonie runzelte die Stirn über diesen seltsamen Gedanken - manchmal dachte sie schon seltsame Sachen -, streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und verließ das Bad. Schon auf der Treppe hörte sie die Stimmen ihrer Eltern, die auf der Terrasse saßen und frühstückten. Das taten sie immer, solange es das Wetter auch nur irgendwie zuließ, und normalerweise genoss Leonie die Dreiviertelstunde mit ihnen draußen in der Natur, ehe sie sich auf den Schulweg machte und Vater und Mutter in den Laden gingen, der die andere Hälfte des Hauses beanspruchte.
Heute hatte sie beinahe Angst davor. Mittlerweile hatte sie sich zwar einigermaßen beruhigt und sie sah die Welt und vor allem ihre eigene Zukunft auch nicht mehr nur grau in grau, aber sie hatte den Streit von vergangener Nacht nicht vergessen und sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass das gemeinsame Frühstück in harmonischer Atmosphäre ablaufen würde.
Aber sie erlebte eine Überraschung. Um genau zu sein sogar zwei.
Die erste saß in Gestalt ihrer Großmutter am Tisch. Nach der hässlichen Szene von letzter Nacht hätte Leonie niemals damit gerechnet, sie zusammen mit ihrer Mutter am Frühstückstisch zu sehen, als wäre nichts passiert, aber sie war da und sie sah genauso fröhlich und ausgeglichen aus wie immer.
Und die zweite, viel größere Überraschung war, dass das Frühstück tatsächlich in harmonischer, ja fast schon heiterer Stimmung stattzufinden schien. Großmutter und ihr Vater unterhielten sich leise und lachten sogar dann und wann, und ihre Mutter hatte sich bequem zurückgelehnt und nippte an ihrer morgendlichen Tasse Kaffee; das einzige kleine Laster, das sie sich gestattete. Als sie Leonie erblickte, runzelte sie zwar für einen kurzen Moment die Stirn und schien für einen noch kürzeren Moment regelrecht verwirrt zu sein, aber dann lächelte sie und deutete mit der Kaffeetasse in der Hand auf den einzigen freien Stuhl am Tisch. Das Gedeck war bereits aufgetragen und in der Tasse dampfte heißer Pfefferminztee, Leonies Lieblingsgetränk.
Leonie begrüßte alle und nahm auch gehorsam Platz, aber sie begann nicht zu frühstücken. Stattdessen blickte sie immer wieder verwirrt von einem zum anderen. Was ging hier vor? Dieses Theater war nahezu oscarverdächtig, nichtsdestotrotz aber regelrecht peinlich!
»Warum fängst du nicht an?«, fragte ihr Vater, nachdem etliche weitere Sekunden verstrichen waren. »Ist irgendetwas mit dem Tee nicht in Ordnung? Fühlst du dich nicht wohl?«
»Ich bin... nur ein bisschen müde.« Sie maß ihre Mutter mit einem durchbohrenden Blick. »Ich habe nicht gut geschlafen.«
»Oh.« Leonies Mutter wirkte bestürzt. »Das tut mir Leid. Ich hoffe doch, es war nicht unsere Schuld. Wir haben noch bis tief in die Nacht zusammengesessen und geredet, weißt du? Hoffentlich haben wir dich nicht gestört.«
Leonie starrte sie aus fassungslos aufgerissenen Augen an. Geredet? So konnte man es zwar auch nennen, doch diese Bezeichnung ging doch um Lichtjahre an der Wahrheit vorbei. Sie wandte sich mit einem fast flehenden Blick an Großmutter, aber sie erntete auch von ihr nur ein schmales und durch und durch ehrlich wirkendes Lächeln.
»Trink deinen Tee, Kind«, forderte sie Leonie auf. »Und iss etwas. Danach fühlst du dich besser, du wirst sehen.«
Leonie hätte am liebsten laut aufgeschrien. Sie fand dieses Theater mittlerweile nicht mehr peinlich, sondern regelrecht entwürdigend. Natürlich war sie froh, dass Großmutter und ihre Eltern offensichtlich wieder Frieden geschlossen hatten, aber mussten sie sie deshalb behandeln, als wäre sie ein Kleinkind oder hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank? Am liebsten wäre sie einfach aufgestanden und davongestürmt, doch sie wusste natürlich, dass sie ihre Mutter mit einem so rüden Verhalten gekränkt hätte, und das wäre trotz allem das Letzte gewesen, was sie wollte.
So schüttelte sie stattdessen nur den Kopf. »Ich habe auch gar keine Zeit. Ich komme jetzt schon zu spät zur Schule.«
»Kommst du nicht«, behauptete ihr Vater.
»Wie meinst du das? Es ist beinahe halb neun.«
»Ich habe mit deinem Lehrer gesprochen«, antwortete Vater. »Es ist alles in Ordnung. Du brauchst heute nicht zur Schule. Es sind ja sowieso nur noch zwei Tage, bis die Ferien anfangen.«
»Nicht zur Schule?«, wiederholte Leonie misstrauisch. Sie sah fragend von einem zum anderen. Ihr Vater war alles andere als autoritär oder übertrieben streng, aber was die Schule anging, verstand er normalerweise keinen Spaß.