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»Wir haben in einer Stunde einen wichtigen Termin, zu dem auch du mitkommen musst«, sagte ihre Mutter.

»Was für einen Termin?«

»Einen Notartermin. Es wird wahrscheinlich den gesamten Vormittag dauern, und danach lohnt es sich nicht mehr, zur Schule zu gehen.«

»Einen Notartermin?«, vergewisserte sich Leonie. »Aber was habe ich denn mit einem Notar zu tun?«

»Du bist gewissermaßen die Hauptperson«, verkündete Großmutter. »Frühstücke ruhig zu Ende. Wir haben noch genug Zeit und deine Eltern werden dir unterwegs alles erklären.«

Seltsam, dachte Leonie, sie sagte deine Eltern, nicht Klaus und Anna, wie sie es normalerweise getan hätte.

Sie war jetzt vollkommen verwirrt. Sie verstand rein gar nichts mehr, aber ihre gerechte Empörung wuchs. Was ging hier vor?

»Ich gehe schon mal und bestelle ein Taxi.« Mutter schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Um diese Tageszeit dauert es manchmal ewig, bis ein Wagen kommt.«

»Taxi?«, wiederholte Leonie - nur um sicherzugehen, dass sie auch wirklich richtig gehört hatte.

»Selbstverständlich ein Taxi«, bestätigte ihre Mutter.

Leonie starrte ihre Mutter an, dann Großmutter, ihren Vater und schließlich wieder ihre Mutter. Sie sagte nichts. Hinter ihrer Stirn jagten sich die Gedanken, aber sie kamen zu keinem Ergebnis. War das eine ganz besondere Art von schlechtem Scherz, den sich ihre Familie da mit ihr erlaubte, oder schlief sie am Ende vielleicht noch immer und der Albtraum von vergangener Nacht dauerte weiter an?

Sie spürte den Blick ihrer Großmutter auf sich ruhen und drehte den Kopf. Großmutter wirkte... überrascht. Oder war es eher beunruhigt? Aber nur für einen winzigen Moment, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt und wedelte auffordernd zum gedeckten Frühstückstisch hin. »Du solltest wirklich etwas essen, Kind. Solche Notartermine dauern manchmal stundenlang. Du wirst bestimmt später Hunger bekommen, aber wenn es erst einmal angefangen hat, gibt es kein Zurück mehr. Das ist wie beim Zahnarzt, weißt du?«

Leonie griff widerstrebend zu, schmierte sich noch widerstrebender ein Käsebrötchen und knabberte lustlos daran herum. Ihre Großmutter betrachtete sie zufrieden und stand nach ein paar Augenblicken auf. »Es wird Zeit, dass ich mich umziehe. Schließlich kann ich ja nicht in Sack und Asche zu einem so wichtigen Termin erscheinen.«

»Tu das«, sagte Leonies Vater. »Ich fahre schon mal den Wagen zurück in die Garage. Anna hat vollkommen Recht. Wir bekommen sowieso keinen Parkplatz in der Stadt. Nicht um diese Zeit.«

Leonie verschluckte sich an ihrem Brötchen, hustete und fiel fast vom Stuhl, als ihr Vater mit schnellen Schritten um den Tisch herumeilte und ihr kräftig mit der flachen Hand zwischen die Schulterblätter schlug. »Nicht so hastig«, sagte er. »Es ist ungesund, zu schnell zu essen, das weißt du doch. Alles in Ordnung?«

Leonie schluckte den Bissen mühsam hinunter, an dem sie fast erstickt wäre, hustete noch einmal und sah ihren Vater aus großen Augen an. »Was... hast du... gesagt?«, japste sie.

»Dass es ungesund ist, zu schnell zu essen.«

»Nein, vorher. Das mit dem Wagen.«

»Ich bringe ihn jetzt zurück in die Garage«, antwortete ihr Vater. »Was ist daran nicht in Ordnung.«

»Was für einen Wagen?!«

»Den Mercedes.« Ihr Vater wirkte nun vollkommen verwirrt. »Welchen denn sonst? Oder hast du gedacht, wir nehmen zu viert den Porsche? Großmutter und du müssten schon im Kofferraum sitzen.« Er lachte über seinen eigenen Scherz, aber unter dem Lächeln in seinen Augen verbarg sich ein Funke aufkeimender Sorge. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

Mit ihr?, dachte Leonie hysterisch. Mit IHR?, Sie hustete noch einmal - jetzt allerdings eher, um Zeit zu gewinnen und auf diese Weise nicht sofort antworten zu müssen -, stand auf und wich rückwärts gehend zwei Schritte vor ihrem Vater zurück.

»Was ist hier los?«, keuchte sie.

»Los?« Ihr Vater legte die Stirn in Falten. Er verstand ganz offensichtlich wirklich nicht, was sie meinte.

Leonie setzte dazu an, die Frage zu wiederholen, aber dann fuhr sie stattdessen auf dem Absatz herum und stürmte ins Haus zurück. Mit weit ausgreifenden Schritten durchquerte sie die Küche und den Hausflur. Sie fand ihre Mutter im Wohnzimmer, wo sie gerade den Telefonhörer auf die Gabel zurücklegte und sich wieder zur Tür umdrehen wollte. Ein leicht fragender Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, als sie den aufgelösten Zustand ihrer Tochter registrierte. »Was...?«

»Was ist hier los?«, fiel ihr Leonie ins Wort. »Ich will jetzt wissen, was hier gespielt wird!«

Sie konnte genau sehen, dass ihre Mutter erneut zu einer ausweichenden Antwort ansetzte, aber dann seufzte sie tief und sagte: »Also gut. Ich sehe ein, es war ein Fehler. Dein Vater und ich wollten dich überraschen - und vor allem wollten wir dir das Ganze ersparen. Alles, was mit Urkunden und den Gerichten zu tun hat, ist im Grunde furchtbar langweilig.«

»Aha«, machte Leonie. Sie verstand kein Wort.

»Gut, es war ein Fehler. Aber ich hoffe doch, dass du uns deswegen nicht gleich den Kopf abreißt oder uns die Freundschaft kündigst.« Sie lächelte und schien ganz offenbar darauf zu warten, dass Leonie dieses Lächeln erwiderte, zum Zeichen, dass sie ihr verziehen hatte.

Leonie tat jedoch nichts dergleichen. Sie stand einfach nur da, ohne ein Wort zu verstehen, und starrte ihre Mutter an - oder genauer gesagt: das Foto, das hinter ihr an der Wand hing. Es war ein ziemlich altes, schlicht gerahmtes Bild, dessen Farben schon deutlich verblasst waren und das eine gut fünfundzwanzig Jahre jüngere Ausgabe ihrer Eltern zeigte, die Hand in Hand vor dem Hintergrund eines prachtvollen Sonnenuntergangs zu sehen waren. Zwischen ihnen und der Sonne, die wie ein glühender Feuerball im Meer versank, erhob sich die schwarze Silhouette der Akropolis von Athen. Leonie selbst war noch nie dort gewesen, denn seit sie auf die Welt gekommen war, reisten ihre Eltern nicht mehr so viel wie früher, aber sie hatten natürlich oft davon erzählt. Das Foto, das Leonie jetzt anstarrte, war nur eines von gut zwei Dutzend, die die Wand hinter der Kommode bedeckten und ihre Eltern an allen möglichen Orten der Welt zeigten. Leonie kannte sogar die Geschichte, die zu jedem einzelnen dieser Bilder gehörte.

Aber wieso hatte sie nur das Gefühl, dass all diese Fotografien hier nichts zu suchen hatten?

»Leonie?«, fragte ihre Mutter.

Leonie ignorierte sie. Langsam ging sie an ihr vorbei, trat dicht an das Foto heran und streckte die Hand aus. Als sie den Rahmen von der Wand löste, konnte sie seine Umrisse immer noch auf der Tapete erkennen. Die Wand war zwar sauber, aber wenn man das Bild abnahm, sah man doch, wie stark die Farbe im Laufe der Jahre nachgedunkelt war.

»Leonie?«, fragte ihre Mutter noch einmal. Sie klang jetzt besorgt. »Geht’s dir gut? Ist alles in Ordnung?«

Sie hörte immer noch nicht hin. Hilflos drehte sie das gerahmte Bild in den Händen, betrachtete den hellen Umriss, den es auf der Wand zurückgelassen hatte, dann wieder das Bild selbst. Das Foto hing dort seit fünf Jahren, oder sechs, wenn nicht länger, aber gestern Nacht...

Ein eisiger Schauer rann über Leonies Rücken. Plötzlich wagte sie es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Hastig hängte sie das Bild an seinen Platz zurück und zwang ein leicht verunglücktes Lächeln auf ihr Gesicht, bevor sie sich ihrer Mutter zuwandte. »Nichts«, sagte sie. »Es ist... schon gut.«

»Was ist denn mit dem Bild?«

»Nichts«, wiederholte Leonie hastig. »Ich dachte, das Glas hätte einen Sprung, aber es war wohl nur eine Spiegelung.«

Ihre Mutter bedachte das Foto mit einem schrägen Blick, dann Leonie selbst mit einem viel längeren und eindeutig besorgten. Sie sah nicht so aus, als würde sie sich mit dieser Antwort zufrieden geben, die auch zu eindeutig nach einer Ausrede klang. Doch bevor sie noch etwas sagen konnte, erscholl draußen vor dem Haus das charakteristische Brummen eines Dieselmotors und dann ein ungeduldiges Hupen.