»Das Taxi ist da«, meinte Leonie schnell.
»Wir können den Termin verschieben«, sagte ihre Mutter, »wenn du dich nicht wohl fühlst.«
»Mit mir ist alles in Ordnung«, versicherte Leonie. »Wirklich. Ich war nur... ein bisschen überrascht, das ist alles. Ich gehe schon mal und sage Großmutter Bescheid.« So schnell, dass es mehr nach einer Flucht als nach irgendetwas anderem aussah, fuhr sie auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Zimmer.
Wie sich zeigte, musste sie Großmutter gar nicht holen. Vater und sie kamen ihr entgegen, noch bevor sie den halben Weg zur Treppe zurückgelegt hatte, und nicht einmal zwei Minuten später saßen sie zusammen im Taxi und fuhren in die Stadt.
Die Fahrt dauerte eine knappe halbe Stunde und Leonie sprach in dieser Zeit keine fünf zusammenhängenden Sätze. Den Zustand, in dem sie sich befand, als Verwirrung zu bezeichnen, wäre hoffnungslos untertrieben gewesen. Sie fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen, so fremd, als wäre sie an diesem Morgen in einer Welt - und einem Körper! - aufgewacht, in die sie nicht gehörte.
Natürlich waren solche Gedanken der blanke Unsinn, aber sie hatte sie nun einmal, und das Chaos hinter ihrer Stirn nahm mit jeder Sekunde eher noch zu. Und natürlich blieb ihr Zustand auch ihren Eltern nicht verborgen. Sie sagten zwar nichts, aber sie tauschten viel sagende Blicke, meist, wenn sie der Meinung waren, dass Leonie es nicht merkte, und auch sie wurden immer stiller. Die letzten zehn Minuten schließlich legten sie alle in unbehaglichem Schweigen zurück.
Es war so, wie ihre Mutter prophezeit hatte: Die Kanzlei des Notars lag in einer schmalen Seitenstraße mit gepflegten Stadthäusern aus dem vorletzten Jahrhundert und war vollkommen zugeparkt. Das Taxi musste mitten auf der Straße anhalten, damit sie überhaupt aussteigen konnten, und schon der kurze Moment, den ihr Vater brauchte, um den Fahrer zu bezahlen und sich eine Quittung ausstellen zu lassen, reichte, um einen kleinen Stau zu provozieren. Ein besonders ungeduldiger Autofahrer hupte wütend.
»Furchtbar«, sagte Großmutter. »Die Menschen heute haben einfach kein Verständnis mehr füreinander.«
Sie warteten vor dem Eingang des Notariats, der unter einem gewaltigen steinernen Vordach lag. Es wurde von vier fast halbmeterdicken Säulen gestützt, und die zweiflügelige Tür aus uraltem, mit kunstvollen Schnitzereien übersäten Holz sah aus, als wöge sie mindestens eine Tonne. Der Anblick erinnerte Leonie an irgendetwas, aber sie konnte nicht sagen woran.
»Ja, früher war alles besser, nicht wahr?«, stichelte Leonies Mutter. Leonie wusste allerdings, wie wenig ernst das gemeint war. Großmutter und sie machten sich gern einen Spaß daraus, sich gegenseitig auf den Arm zu nehmen.
»Nicht alles, aber vieles, mein Kind. Die Leute hatten mehr Zeit füreinander.«
»Und es gab mehr Krankheiten, mehr Ungerechtigkeit und mehr Not...«
»... mehr Liebe und Rücksichtnahme...«
»... mehr Hunger und Kinderarbeit...«
Leonie verdrehte innerlich die Augen und unterdrückte ein Seufzen. Sie war froh, als sie sah, wie ihr Vater seine Brieftasche einsteckte und die Straße überquerte, wobei er dem Autofahrer, der immer noch ungeduldig seine Hupe malträtierte, ein strafendes Kopfschütteln zukommen ließ; ernst gemeint oder nicht - diese Diskussionen zwischen Mutter und Großmutter konnten Stunden dauern, wenn sie niemand bremste.
Sie klingelten und traten ein, als praktisch unmittelbar darauf ein leises elektrisches Summen erklang und die riesige Tür wie von Geisterhand bewegt aufsprang. Leonies Blick streifte im Vorbeigehen das kleine Messingschildchen, das neben der Tür an der Wand hing. Dr. Fröhlich stand da in verschnörkelten Buchstaben, Notar. Ein seltsamer Name für einen Notar, fand sie.
Dafür sah das Notariat aber genauso aus, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die Wände waren mit schwerem schwarzen Holz vertäfelt, zu dem die kostbar geschnitzten Möbel hervorragend passten. Auf dem Boden lagen dicke Teppiche, und das Licht kam aus wertvollen Kronleuchtern, die unter der ebenfalls vertäfelten Decke hingen. Eine altmodisch gekleidete Sekretärin führte sie in ein großzügig angelegtes Wartezimmer, aber ihnen blieb gerade genug Zeit sich zu setzen, bevor die Tür auch schon wieder aufging und Dr. Fröhlich eintrat. Großmutter stand auf, um ihn zu begrüßen, und auch Leonie drehte sich zur Tür... und erstarrte mitten in der Bewegung.
Zu behaupten, dass Fröhlich aussah wie ein Notar, wäre hoffnungslos untertrieben gewesen. Es war, als hätte ein begnadeter Künstler ihn zu keinem anderen Zweck erschaffen, als dem allgemeinen Klischee von einem Notar bis aufs i-Tüpfelchen zu entsprechen, und ihm dann irgendwie Leben eingehaucht.
Er war unglaublich alt - mindestens zehn Jahre älter als Großmutter, schätzte Leonie, wenn nicht mehr - und trug einen dunkelgrauen zweireihigen Anzug, der wahrscheinlich noch älter war als er selbst, aber dennoch tadellos in Schuss. Manschetten und Ellbogen waren mit kleinen Lederflicken verstärkt, damit der Stoff nicht durchscheuerte, darunter trug er eine ebenfalls graue Weste und ein blütenweißes Hemd, das mit einer roten Samtfliege geschlossen wurde. In seinem rechten Auge steckte ein altmodisches Monokel. Der einzige Stilbruch war seine Frisur. Sie existierte praktisch nicht: Den dünnen Haarkranz, den ihm die Jahre noch gelassen hatten, hatte er zu einem geradezu lächerlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihm bis auf die Schultern reichte, aber kaum so dick war wie ein Kinderfinger.
Oder, um es anders auszudrücken: Vor Leonie stand...
»Professor Wohlgemut?«, murmelte sie fassungslos. »Was soll denn jetzt dieser Mummenschanz schon wieder?«
»Nur Doktor, nicht Professor.« Der angebliche Notar wandte sich in ihre Richtung und lächelte geschmeichelt. »Und Fröhlich, statt Wohlgemut. Du musst Leonida sein. Nach allem, was mir deine Großmutter über dich erzählt hat, sollte es mich eigentlich nicht mehr wundern, dass du dieses altmodische Wort überhaupt kennst, aber du...«
Er unterbrach sich, rückte sein Monokel zurecht und maß Leonie mit einem sehr langen, sehr aufmerksamen Blick, und während er das tat, wandelte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht von bloßer Freundlichkeit über Verwirrung und Erschrecken bis hin zu etwas, von dem Leonie nicht sicher war, ob sie es überhaupt wirklich erkennen wollte.
»Du bist... Leonie?«, murmelte er.
»Meine Enkelin«, sagte Großmutter stolz. »Ich habe Ihnen doch von ihr erzählt, Doktor.«
»Das... das haben Sie, meine Liebe«, antwortete Fröhlich stockend. Sein Blick haftete noch immer wie gebannt auf Leonie, und was sie nun darin las, das grenzte eindeutig an Entsetzen. »Ich hatte sie mir nur... ein wenig anders vorgestellt.« Mühsam riss er sich von Leonies Anblick los, nahm das Monokel ab und drehte sich mit einem Ruck ganz zu Großmutter um.
»Bevor wir zum offiziellen Teil kommen, hätte ich Sie gern noch für einen Moment gesprochen, Frau Kammer. Unter vier Augen.«
»Was ist denn los?«, fragte Leonies Mutter. Sie klang ein bisschen alarmiert.
»Nichts«, antwortete Fröhlich, ohne dass sein Blick den Großmutters auch nur für einen Sekundenbruchteil losgelassen hätte. »Nur eine reine Formalität.« Er war ein miserabler Lügner, fand Leonie.
Ihre Mutter schien wohl ungefähr dasselbe zu denken wie sie, aber Fröhlich gab ihr keine Gelegenheit, etwas zu sagen, sondern drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Raum. Großmutter folgte ihm und auch Leonie stand auf.
»Wohin?«, wollte ihr Vater wissen.