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»Ich suche nur die Toilette«, log Leonie, ungefähr so überzeugend wie Fröhlich gerade, und genau wie er gab sie ihren Eltern keine Gelegenheit, zu protestieren, sondern lief rasch aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Großmutter verschwand gerade hinter der Biegung des langen Korridors und Leonie schritt schneller aus, um sie einzuholen. Sie hatte endgültig genug von diesem Affentheater. Sie würde Großmutter und diesen angeblichen Dr. Fröhlich zur Rede stellen, hier und jetzt.

Auf halbem Wege kam sie an einer offen stehenden Tür vorbei. An einem Schreibtisch in dem Raum dahinter saß Fröhlichs Sekretärin, die sie nur eine halbe Sekunde lang strafend ansah, bevor ihr Gesichtsausdruck in ein verständnisvolles Lächeln überging. »Den Gang hinunter und dann links«, sagte sie.

Leonie nickte flüchtig und beschleunigte ihre Schritte. Ein kleines Messingschildchen an der Wand zeigte ihr, dass die Toiletten tatsächlich links lagen, aber sie bog rechts ab, die Richtung, in die Fröhlich und ihre Großmutter gegangen waren. Von den beiden fehlte jede Spur, doch es gab auf dieser Seite des Ganges nur eine einzige Tür, sodass kaum die Gefahr bestand, sie zu verlieren. Leonie beschleunigte ihre Schritte noch weiter, streckte schon die Hand nach dem Türgriff aus, bemerkte aber dann, dass die Tür gar nicht zu war. Sie stand einen Spaltbreit offen, gerade weit genug, um lauschen und unbemerkt hindurchspähen zu können. Nach allem, was sie bisher an diesem Morgen erlebt hatte, hatte sie kaum noch Skrupel, genau das zu tun.

Und kaum hatte sie es getan, waren auch diese letzten Skrupel fort, denn sie wusste, dass sie richtig gehandelt hatte.

Großmutter und der angebliche Fröhlich hatten die Maske der Freundlichkeit abgelegt und standen sich wie zwei Kampfhähne gegenüber. Fröhlich hatte sein Monokel aus dem Auge genommen und wedelte damit herum wie ein mittelalterlicher Krieger mit seinem Schwert.

»Sag mir, dass du das nicht getan hast!«, keuchte er, noch nicht wirklich schreiend, doch auch nicht mehr sehr weit davon entfernt. »Ich kenne die Antwort ja bereits, aber trotzdem: Sag mir, dass du nicht das getan hast, was ich glaube!«

»Dieses Theater ist albern, findest du nicht?«, fragte Großmutter.

»Albern?« Fröhlich japste nach Luft. »Sagtest du: albern? Mein Gott, hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was du angerichtet hast?«

»Das Einzige, was ich tun konnte«, antwortete Großmutter. Sie klang fast trotzig, aber auch irgendwie traurig. »Was ich tun musste.«

»Unsinn!«, schnappte Fröhlich. »Du hast... etwas Ungeheuerliches getan. Ausgerechnet du! Wer außer dir sollte besser wissen, dass wir niemals aus persönlichen Gründen...«

»Es waren keine persönlichen Gründe«, fiel ihm Großmutter ins Wort. »Ich hatte keine andere Wahl. Unsere Zeit läuft ab - und du weißt so gut wie ich, was passiert ist. Du warst schließlich dabei, wenn ich mich richtig erinnere.«

»Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich das war«, antwortete Fröhlich böse. Leonie hatte nicht die geringste Ahnung, was diese knappe Bemerkung zu bedeuten hatte, aber das änderte nichts daran, dass sie ihr einen eisigen Schauer über den Rücken jagte und sie plötzlich sehr froh war, die Tür nicht aufgemacht zu haben.

»Ich hatte keine andere Wahl, bitte glaub mir«, beteuerte Großmutter. »Wir wussten immer, dass dieser Moment eines Tages kommen würde.«

»So!« Fröhlich schrie fast. »Weißt du eigentlich, was du möglicherweise angerichtet hast?«.

»Ja«, antwortete Großmutter mit großem Ernst. »Ich bin mir der Gefahr bewusst, aber ich musste es tun. Der Moment ist nicht mehr fern, und ich fürchte, dass mir nicht mehr genug Zeit bleibt. Es ist Anna, nicht Leonie. Sie hat mir schwere Vorwürfe gemacht und sie hat Recht damit. Was ich ihr angetan habe, ist unverzeihlich. Ich werde mit dieser Schuld leben müssen, aber ich kann dasselbe nun nicht auch noch Leonie antun.«

»Dann hättest du mit ihr reden müssen.« Fröhlich sah weder so aus, noch hörte er sich so an, als hätte ihn Großmutters Argument irgendwie beeindruckt.

»Dazu ist keine Zeit mehr«, antwortete Großmutter. »Es hat bereits begonnen.«

»Unsinn!«, protestierte Fröhlich. »Wie oft haben wir das schon gedacht? Und es ist niemals passiert. Manchmal frage ich mich, ob es überhaupt jemals passieren wird. Wer weiß: Vielleicht hat deine Tochter ja sogar Recht, und wir sind es, die einem Traum nachjagen.«

»Du weißt, dass das nicht stimmt«, sagte Großmutter.

»Trotzdem.« Fröhlich schüttelte heftig den Kopf, aber er wirkte jetzt nicht mehr wirklich zornig, sondern eher verstört, fast schon ängstlich. »Was du getan hast, war unverzeihlich. Mein Gott, wenn ich mir vorstelle, was hätte passieren können.«

»Und was passiert, wenn ich fortgehe und niemand da ist, der meinen Platz einnimmt?« Großmutter schüttelte entschlossen den Kopf. »Glaub bitte nicht, dass ich es mir leicht gemacht habe, aber ich hatte keine Wahl.«

»Dann bete ich zu Gott, dass deine Wahl die richtige war«, seufzte Fröhlich. »Und dass er mächtig genug ist, uns zu helfen, falls nicht.«

»Jetzt wirst du melodramatisch«, sagte Großmutter lachend. »Aber du hattest ja schon immer einen gewissen Hang dazu.«

»Ich kann darüber nicht lachen.« Fröhlich klemmte sich das Monokel wieder ins Auge und machte eine Kopfbewegung zur Tür. »Geh und hol deine Familie, bevor sie misstrauisch wird.«

Leonie wich rasch zwei Schritte von der Tür zurück, dann wandte sie sich um und begann zu rennen. Aber nur wenige Schritte weit. Sie hörte, wie die Tür hinter ihr aufging, und fuhr abermals herum, und als ihre Großmutter aus Fröhlichs Büro trat, sah es ganz so aus, als käme Leonie gerade aus der anderen Richtung.

»Oh, hallo Leonie«, sagte Großmutter. »Hast du mich gesucht?«

»Nein«, antwortete Leonie. »Ich war nur...«

Sie deutete leicht verlegen auf die Toilettentür hinter sich. »Dort.«

»Du bist aufgeregt, vermute ich«, meinte Großmutter. »Na ja, ich an deiner Stelle wäre das wahrscheinlich auch. Sei so lieb und hol deine Eltern. Herr Dr. Fröhlich ist jetzt so weit.«

Das bezweifelte Leonie. Aber sie widersprach nicht, sondern ging gehorsam, um ihre Eltern zu holen, und nicht einmal zwei Minuten später saßen sie alle zusammen an einem Tisch, der die Abmessungen von König Artus’ Tafelrunde hatte und an dem mindestens dreißig Personen Platz gefunden hätten. Er war vollkommen leer bis auf einen beeindruckenden schwarzen Aktenordner aus Leder, den Fröhlich vor sich aufklappte. Leonie reckte den Hals und sah, dass er voller augenscheinlich alter, zum Teil noch handbeschriebener Blätter war. An dem einen oder anderen erkannte sie sogar noch die Reste altmodischer roter Wachssiegel.

Fröhlich räusperte sich und sofort kehrte Ruhe ein.

»Bitte entschuldigen Sie die kleine Verzögerung«, begann er. »Eine lästige Formalität, aber Sie wissen ja, wie die Behörden in diesen Dingen sind. Es muss alles und immer seine Richtigkeit haben.« Er warf ein Beifall heischendes Lächeln in die Runde, aber als es nicht erwidert wurde, räusperte er sich erneut und schlug einen offizielleren Ton an.

Was folgte, dauerte geschlagene anderthalb Stunden, doch das bedeutete ganz und gar nicht, dass es Leonie währenddessen langweilig gewesen wäre. Sie verstand fast gar nichts von dem, was Fröhlich in gestelztem Paragraphendeutsch vorlas, aber sie verstand sehr wohl, was es bedeutete: nicht weniger, als dass Großmutter ihr die Buchhandlung und ihr gesamtes Vermögen überschrieb.

Als sie an diesem Punkt von Fröhlichs größtenteils unverständlichen Ausführungen angekommen waren, unterbrach Leonie den Redefluss des Notars. »Einen Moment«, bat sie und wandte sich an Großmutter. »Soll das heißen, dass... dass du mir dein Geschäft... schenkst?«

»Und alles andere auch, ja«, bestätigte Großmutter. Sie lächelte. »Vereinfacht ausgedrückt.«