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»Wir sind schon auf dem Weg zum Flughafen, ja.« Großmutter sah sie immer noch nicht an. Ihre Finger hatten sich um den Griff der altmodischen Handtasche geschlossen und kneteten ihn ununterbrochen.

»Aber... aber warum?«, murmelte Leonie. Sie begann den Kampf gegen die Tränen, die immer heftiger in ihren Augen brannten, allmählich zu verlieren, doch das war ihr egal. »Ich meine: Warum so plötzlich? Warum habt ihr mir nie etwas gesagt?« Sie wandte sich fast flehend an ihre Mutter, aber die wich ihrem Blick genauso aus wie ihr Vater und auch Großmutter.

»Es ging alles so schnell«, antwortete Großmutter vom Beifahrersitz aus. »Vor ein paar Tagen wussten wir ja schließlich selbst noch nichts davon. Und wir haben bis tief in die Nacht hinein versucht, eine andere Lösung zu finden, aber es ist uns nicht gelungen. Es war ein Fehler, es dir zu verschweigen, ich weiß. Es tut mir Leid.«

Leonie schwieg. Sie fragte sich, warum sie dieses unwürdige Theater nicht endlich beendete und sagte, dass sie ganz genau wusste, worüber Großmutter und ihre Eltern wirklich bis tief in die Nacht hinein geredet hatten. Aber sie verzichtete darauf. Sie blickte nur aus dem Fenster, kämpfte mühsam und immer vergeblicher gegen die Tränen an und versuchte zu begreifen, was mit ihr geschah, bis sie den Flughafen endlich erreicht hatten.

Der Abschied war kurz. Großmutters Gepäck war bereits an Bord und Vater brauchte nur zehn Minuten, um das hinterlegte Ticket abzuholen und für sie einzuchecken. Sie hätten noch Zeit gehabt, bevor Großmutter einsteigen musste, aber niemand protestierte, als sie vorschlug, lieber ein wenig eher durch die Passkontrolle und den Sicherheits-Check zu gehen; nur damit auch alles klappte. Leonie verfolgte das ganze Gespräch wie in Trance. Selbst als Großmutter sie zum Abschied in die Arme schloss und auf die Stirn küsste, kam sie sich wie in einem bösen Traum gefangen vor. Sie krächzte nur ein kaum verständliches Lebewohl und wandte sich dann mit einem Ruck ab, weil Großmutter die Tränen nicht sehen sollte, die ihr über das Gesicht liefen.

Danach rechnete sie damit, dass ihre Eltern möglichst schnell nach Hause fahren würden, aber das Gegenteil war der Fall. Statt sofort wieder in ein Taxi zu steigen, gingen sie hinauf ins Restaurant, von dem aus man einen Ausblick auf die Start- und Landebahnen hatte. Sie bestellten Kaffee und Kuchen für sich, aber als sie Leonie nach ihren Wünschen fragten, sah sie sie nur entsetzt an. Ihre Großmutter hatte die Familie gerade verlassen, und das - Leonie spürte es einfach - für immer. Wie konnten sie in diesem Moment Kaffee und Kuchen bestellen, als gäbe es etwas zu feiern?

Die Zeit verging nur schleppend. Die Kellnerin brachte die Bestellung, und ihre Eltern begannen sich über alltägliche Belanglosigkeiten zu unterhalten, so als wäre nichts geschehen. Schließlich aber ließ ihr Vater seine Kaffeetasse sinken und deutete mit der freien Hand durch die große Panoramascheibe nach draußen. »Das ist Großmutters Maschine.«

Leonie fuhr fast erschrocken herum und folgte seiner Geste. Am Ende der Startbahn, durch die große Entfernung scheinbar auf die Dimensionen eines Spielzeugflugzeuges zusammengeschrumpft, war ein in drei bunten Farben lackierter Jumbojet in Position gerollt. Gerade als Leonie hinsah, setzte er sich scheinbar schwerfällig in Bewegung, gewann aber rasch an Tempo.

Der Anblick versetzte ihr einen tiefen Stich und sie spürte, wie sich ihre Augen schon wieder mit Tränen füllen wollten. Diesmal gelang es ihr, sie unter Aufbietung aller Willenskraft zurückzudrängen, aber sie saß stocksteif da und war sich dabei durchaus bewusst, dass ihr Gesicht zu einer vollkommen ausdruckslosen Maske erstarrte.

Etwas berührte ihre Finger. Leonie riss ihren Blick von dem immer schneller werdenden Jumbojet los und bemerkte, dass ihre Mutter ihre Hand ergriffen hatte. Es sollte eine Geste des Trostes werden, aber sie bewirkte in Leonie in diesem Augenblick eher das Gegenteil. Sie rührte sich nicht, doch es kostete sie große Anstrengung, ihre Hand nicht abzuschütteln.

Ihre Mutter schien das zu bemerken, denn nach einer Weile zog sie ihre Hand zurück, und in den Ausdruck von Mitleid in ihren Augen mischten sich Bedauern und ein leiser Schmerz.

»Es tut mir so Leid, Schatz«, sagte sie mitfühlend. »Aber glaub mir, wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht. Es ist besser so. Und sie kommt ja wieder.«

»Du weißt ganz genau, dass das nicht stimmt«, flüsterte Leonie. In ihrer Stimme war ein so bitterer und zugleich vorwurfsvoller Ton, dass ihre Mutter leicht zusammenzuckte und ihr Vater stirnrunzelnd in ihre Richtung sah und sichtlich dazu ansetzte, etwas zu erwidern, aber ihre Mutter legte ihm rasch die Hand auf den Unterarm und er schwieg.

Leonie sah wieder zur Startbahn. Sie bereute ihre Worte bereits. Sie hatte ihre Mutter verletzt und sie war dazu noch unfair gewesen, das wusste sie. Aber es tat so weh. Leonie begriff erst jetzt, als sie dem immer schneller und schneller werdenden Flugzeug hinterherstarrte, wie gewaltig der Verlust war, den sie erlitten hatte. Solange sie sich erinnern konnte, hatte Großmutter selbstverständlich zu ihrem Leben dazugehört. Sie konnte sich einfach noch nicht vorstellen, dass sie nun nicht mehr da sein sollte. Es war buchstäblich kein Tag vergangen, an dem sie sie nicht gesehen hatte, und gerade in den letzten Jahren, in denen ihre Mutter immer stärker in die Buchhandlung eingebunden gewesen war, hatte sie eigentlich mit Großmutter die meiste Zeit verbracht. Sie waren mehr als Großmutter und Enkelin gewesen, nämlich trotz des gewaltigen Altersunterschiedes sehr gute Freundinnen. Und all das sollte jetzt vorbei sein, von einem Moment auf den anderen und ohne dass sie wirklich wusste warum? Nein, so unfair konnte das Schicksal einfach nicht sein.

Das Flugzeug wurde immer noch schneller. Als es abhob, bemerkte Leonie einen verschwommenen Reflex auf der großen, leicht gebogenen Panoramascheibe. Es war nur ein Huschen, etwas, das sich für einen Sekundenbruchteil im Glas spiegelte und dann wieder verschwunden war, aber Leonie erkannte trotzdem ganz deutlich eine schmale, vom Alter gebeugte Gestalt, die einen zweireihigen grauen Anzug trug, Weste und Fliege und ein Monokel im rechten Auge.

Sie fuhr so erschrocken herum, dass sie gegen den Tisch stieß und Geschirr und Besteck klirrten. Hinter ihr war niemand. Das Restaurant war gut besucht und etliche Gäste blickten wie sie gerade aus dem Fenster und sahen dem startenden Flugzeug nach, aber es war kein hundertjähriger Notar mit Monokel und dünnem Pferdeschwanz unter ihnen.

»Was hast du?«, fragte ihre Mutter leicht alarmiert.

»Nichts«, antwortete Leonie. Sie musste sich getäuscht haben. In dem Zustand, in dem sie sich befand, war es ja kein Wunder, dass ihre Fantasie anfing, ihr böse Streiche zu spielen.

Das Flugzeug war in der Luft, als sie sich wieder zum Fenster umdrehte, und neigte sich zur Seite, während es allmählich an Höhe gewann.

»Sei nicht traurig, Schatz«, sagte ihre Mutter leise. »Sie kommt ja zurück. Bestimmt.«

Und in diesem Moment explodierte der Jumbo und verwandelte sich in einen lodernden Feuerball.

Nach der Katastrophe

Es wurde Abend, bis sie nach Hause kamen, und obwohl bis spät in die Nacht nicht eine Minute verging, in der Leonie nicht über die unvorstellbare Katastrophe nachdachte, konnte sie hinterher nicht wirklich sagen, was genau geschehen war oder auch nur in welcher Reihenfolge. Sie erinnerte sich nur an Lärm, Flammen und reines Chaos. Das Flugzeug hatte sich in eine brodelnde Feuerkugel verwandelt, aus der Stichflammen und brennende Trümmerstücke in alle Richtungen flogen, und noch bevor der gewaltige Lärm der Explosion über ihnen zusammenschlug, erbebte die riesige Fensterscheibe wie unter einem Fausthieb, als sie die Druckwelle traf. Hinterher wurde ihr klar, dass alles noch viel schlimmer hätte kommen können. Hätte die Explosion die Fensterscheibe zerschmettert, dann wäre die Anzahl der Opfer bestimmt noch viel größer gewesen, denn zweifellos hätten sich die Scherben in gefährliche Geschosse verwandelt, die unter die Zuschauer gefahren wären. Das geschah nicht, aber natürlich brach in dem großen Restaurant - wie übrigens auf dem gesamten Flughafen - sofort Panik aus. Leonie erinnerte sich nur noch an Schreie, durcheinander rennende Menschen und umstürzende Tische, Stühle und an Geschirr, das klirrend zerbrach.