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Wie sie nach Hause gekommen waren, wusste sie nicht mehr. Viele Fluggäste und Besucher hatten den Flughafen in heller Panik verlassen, aber sie und ihre Eltern hatten nicht zu ihnen gehört, und als sie endlich gehen wollten, da hatten sie es gar nicht mehr gekonnt. Sowohl in den Parkhäusern als auch auf der Straße vor dem Flughafengebäude herrschte ein hoffnungsloses Chaos. Selbst wenn sie ein freies Taxi gefunden hätten - was nicht der Fall war -, wären sie keinen Meter von der Stelle gekommen. Kurz darauf hatten dann auch noch Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienst das Gelände praktisch abgeriegelt, von dem Belagerungsring aus Reportern, Fotografen und Fernsehteams, der sich hinter den Absperrungen gebildet hatte, ganz zu schweigen.

Leonie erinnerte sich an all das und zugleich auch nicht. In ihrem Kopf purzelten die Bilder durcheinander wie Splitter eines zerbrochenen Spiegels, und alles, was sie spürte, war eine dumpfe Betäubung. Keinen Schmerz, keinen Schrecken. Sie hatte sich leicht verletzt: Als das Flugzeug explodierte, hatte sie ganz instinktiv die Hände vors Gesicht gerissen und sich dabei eine üble Schramme an der Tischkante zugezogen, aber selbst diesen Schmerz spürte sie kaum.

In ihr war nichts weiter als eine große, schreckliche Leere. Es war, als hätte die Explosion nicht nur das Flugzeug zerstört, sondern auch etwas in ihr vernichtet. Sie hätte Schmerz empfinden sollen, denn neben all den anderen Menschen - im Fernsehen hatten sie von mehr als zweihundert Opfern gesprochen - war auch ihre Großmutter ums Leben gekommen, aber sie empfand... nichts. Der Tag ging zu Ende und draußen vor den Fenstern wurde es allmählich dunkel. Leonie lag angezogen auf dem Bett, starrte die Decke über sich an und wartete darauf, dass diese entsetzliche Leere aus ihrem Inneren verschwand, aber das geschah nicht. Sie wäre ja schon froh gewesen, wenn wenigstens der Schmerz gekommen wäre, aber selbst dieser oft letzte Begleiter des Menschen ließ sie jetzt im Stich.

Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Sie sah nicht auf die Uhr, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass es spät am Abend sein musste, als sie das Zimmer verließ und mit hängenden Schultern ins Bad schlich. Unten im Wohnzimmer lief der Fernseher und sie glaubte, die Stimmen ihrer Eltern zu hören, doch sie achtete kaum darauf, sondern setzte ihren Weg fort, ohne auch nur einen Blick über das Geländer in die Tiefe zu werfen. Die Welt dort unten interessierte sie nicht. Vielleicht würde sie nie wieder etwas wirklich interessieren.

Das Licht im Bad ging automatisch an, als sie den Raum betrat - nur eine der technischen Spielereien, die ihr Vater so liebte und mit denen das ganze Haus von oben bis unten gespickt war - und sie ging langsam zum Waschbecken, drehte den Kaltwasserhahn auf und hielt die Handgelenke fast eine Minute lang unter den eisigen Strahl. Die Kälte ließ sie mit den Zähnen klappern, aber die erhoffte Wirkung blieb aus. Wie der brennende Schmerz an ihrer Hand schien auch die Kälte sonderbar irreal; als wäre sie etwas, das gar nicht sie betraf, sondern wie das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, ihr zwar seit fünfzehn Jahren vertraut war und trotzdem das einer Fremden zu sein schien.

Als sie den Wasserhahn zudrehte, fiel ihr Blick auf etwas Kleines, Silberfarbenes, das am Rand des Waschbeckens lag. Verwirrt griff sie danach und drehte es im Licht.

Es dauerte eine Weile, bis sie überhaupt erkannte, was sie da in der Hand hielt. Eine kleine silberne Nadel mit einer verchromten Kugel an jedem Ende. So etwas benutzte man in einem Piercing-Studio, wenn sie sich richtig erinnerte. Etliche von Leonies Klassenkameraden und -kameradinnen hatten solche Piercings, daher kannte sie sie, obwohl sie selbst so etwas nie getragen hätte. Aber wie kam dieses Piercing hierher?

Leonie dachte einen Moment lang ebenso angestrengt wie vergeblich über diese Frage nach, dann legte sie die Nadel wieder auf den Waschbeckenrand zurück und starrte in den Spiegel...

... der keiner mehr war.

Stattdessen blickte sie in eine hellen, scheinbar endlosen Tunnel, dessen Wände aus reinem weißen Licht zu bestehen schienen. An seinem Ende - eine Galaxie und zwei Unendlichkeiten entfernt - schimmerte ein noch helleres Licht, und während Leonie verständnislos in diese weiße Unendlichkeit blinzelte, bewegte sich das Licht, kam näher und begann wirbelnde Formen und Umrisse zu bilden. Es vergingen nur wenige Atemzüge, bis aus den wogenden Lichtschleiern ein Gesicht geworden war.

Das Gesicht ihrer Großmutter.

»Groß...mutter«, hauchte sie stockend.

»Sie darf es nicht tun, Leonie«, sagte Großmutter. »Du musst sie aufhalten!«

»Aber was... was bedeutet das?« Leonie blinzelte und presste die Lider so fest zusammen, dass ihre Augen wehtaten, und schlug sie wieder auf. Das Gesicht war immer noch da.

»Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe«, erklärte Großmutter. »Einen furchtbaren Fehler. Aber sie darf nicht versuchen, ihn durch einen noch schlimmeren Fehler wieder gutzumachen. Sag ihr das!«

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, keuchte Leonie.

Das Gesicht antwortete nicht. Für einen ganz kurzen Moment bohrte sich der Blick der uralten, gütigen Augen Großmutters in den Leonies, und sie gewahrte eine Furcht und ein Entsetzen darin, die sie erschauern ließen.

Dann verschwand das Gesicht.

Der leuchtende Tunnel erlosch und Leonie blickte wieder in den Spiegel und in ihr eigenes schreckensbleiches Gesicht.

»Großmutter?«, flüsterte sie, und dann schrie sie auf, riss die Arme in die Höhe und schlug mit solcher Wucht gegen den Spiegel, dass er zerbrach. »Großmutter!«, schrie sie noch einmal. »Großmutter, komm zurück!«.

Die Tür wurde aufgerissen, dann griffen starke Hände nach Leonies Schultern, zerrten sie vom Waschbecken fort und zwangen sie sich umzudrehen. Hinter ihr regneten die Scherben des zerborstenen Spiegels ins Waschbecken. Leonie schrie immer noch nach ihrer Großmutter und versuchte sich loszureißen. Erst als ihre Mutter sie grob bei den Handgelenken ergriff und so fest rüttelte, dass ihre Zähne schmerzhaft aufeinander schlugen, hörte sie auf.

Schlagartig wich alle Kraft aus ihrem Körper. Ihre Knie wurden weich. Sie sank nach vorne und wäre gestürzt, hätte Mutter sie nicht aufgefangen und in die Arme geschlossen. Leonie begann schluchzend zu weinen. »Großmutter«, wimmerte sie. »Das war... Großmutter.«

Ihre Mutter begann ihr tröstend über das Haar zu streichen. »Weine ruhig, mein Liebling«, flüsterte sie. »Das ist schon in Ordnung. Lass alles raus.«

Leonie machte sich mit einiger Mühe aus ihrer Umarmung los und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, um die Tränen fortzuwischen. Sie hatte sich an den Scherben des Spiegels geschnitten. Es tat nicht sehr weh, aber sie spürte, wie sie ihr Gesicht zusätzlich mit Blut verschmierte.

»Um Gottes willen, Leonie«, keuchte ihre Mutter. »Was ist denn mit deinen Händen?«

»Großmutter«, stammelte Leonie. »Der Spiegel...«

»Das spielt doch jetzt keine Rolle«, sagte ihre Mutter. »Du hast dich geschnitten!«

»Nein, du... du verstehst nicht. Es war Großmutter. Sie hat zu mir gesprochen und...«

Ihre Mutter hörte gar nicht zu. Mit sanfter Gewalt führte sie Leonie zum Waschbecken, drehte den Wasserhahn auf und hielt ihre Hände unter den Strahl. Diesmal tat das kalte Wasser regelrecht weh, aber Leonie sah auch schon nach ein paar Sekunden, dass sie nicht ernst verletzt war. Die Schnitte, die sie sich an den Spiegelscherben zugezogen hatte, waren nicht sehr tief. Die meisten hatten bereits aufgehört zu bluten.