»Anscheinend hast du noch einmal Glück gehabt.« Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Das hätte schlimm ausgehen können. Es ist meine Schuld. Ich hätte dich nicht allein lassen dürfen. Nicht nach so einem Tag.«
»Der Spiegel...«, begann Leonie, wurde aber sofort wieder von ihrer Mutter unterbrochen.
»Jetzt vergiss doch diesen dummen Spiegel«, sagte sie. »Hauptsache, dir ist nichts Schlimmes passiert.« Sie griff nach einem Handtuch, befeuchtete einen Zipfel und wollte das Blut aus Leonies Gesicht wischen, aber sie drehte den Kopf weg und wich ihr aus.
»Du verstehst nicht«, sagte sie. »Ich habe sie gesehen. Ihr Gesicht war im Spiegel! Sie... sie hat mit mir gesprochen!«
Ihre Mutter sah sie durchdringend an, dann drehte sie sich zur Seite und maß die Spiegelscherben im Waschbecken mit einem sehr langen undeutbaren Blick. »Sie fehlt dir sehr, nicht wahr? Mir fehlt sie jedenfalls. Ich habe es noch gar nicht ganz verstanden. Es ist alles so furchtbar schnell gegangen.« Ihre Stimme wurde leiser, und obwohl sie weiter starr auf die funkelnden Scherben im Waschbecken blickte, sah Leonie, dass in ihren Augen plötzlich Tränen schimmerten. Mit einem Mal kam ihr zu Bewusstsein, dass sie nicht die Einzige war, die einen schrecklichen Verlust erlitten hatte. Sie hatte ihre Großmutter verloren, aber ihre Mutter hatte schließlich ihre Mutter verloren.
»Ich habe sie wirklich gesehen«, sagte sie sehr leise, aber auch sehr ernst.
»Ich weiß«, antwortete Mutter. »Auch ich sehe sie überall. Ich höre ihre Schritte und ich rieche sogar ihr Kölnischwasser.« Sie lächelte traurig. »Weißt du noch, wie oft ich mich darüber beschwert habe, dass sie mit dem Zeug das ganze Haus verpestet? Wie froh wäre ich, wenn ich es jetzt noch einmal riechen könnte.« Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne und biss darauf. »Käme sie doch zurück. Sie könnte darin baden, wenn sie es wollte. Gott, könnte ich doch nur noch irgendetwas tun, um sie zurückzuholen!«
Leonie schwieg. Ihre Mutter hatte den Sinn ihrer Worte noch nicht einmal ansatzweise verstanden, aber sie versuchte es auch nicht. Andererseits war es ja vielleicht tatsächlich so, wie ihre Mutter glaubte: Sie hatte die Schwere des Schlags, den sie erlitten hatte, noch gar nicht erfasst - wie konnte sie da sicher sein, dass ihr ihre Nerven nicht einfach einen Streich gespielt hatten?
Ihre Mutter seufzte, dann trat sie an den Badezimmerschrank, um das Erste-Hilfe-Kästchen herauszunehmen. Sorgfältig reinigte sie Leonies Schnittwunden, versorgte die kleineren mit Heftpflaster und die beiden etwas tieferen Schnitte mit einer Mullbinde. »Das ist halb so wild«, erklärte sie, als sie fertig war. »Wahrscheinlich brauchen wir den Verband gar nicht, aber sicher ist sicher.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Eigentlich bin ich ja heraufgekommen, um dich zu holen. Wir müssen... ein paar Dinge besprechen. Fühlst du dich in der Lage dazu?«
Das fast unmerkliche Zögern in ihren Worten machte Leonie klar, dass es sich bei den paar Dingen, die ihre Eltern mit ihr besprechen wollte, ganz bestimmt nicht um etwas Angenehmes handelte, dennoch nickte sie.
»Bist du sicher?«, fragte ihre Mutter. »Ich meine: Wir können es verschieben, wenn du dich nicht wohl fühlst.«
»Es geht schon«, meinte Leonie leise.
»Gut«, sagte ihre Mutter. »Dann mach dich ein bisschen frisch und komm nach unten ins Wohnzimmer.«
Sie ging. Leonie blieb noch eine kurze Weile reglos stehen, bevor sie wieder ans Waschbecken trat und sich das Gesicht wusch. Anschließend trocknete sie sich übertrieben sorgfältig mit dem Handtuch ab, das ihre Mutter gerade benutzt hatte. Ihr war selbst klar, dass sie das nur tat, um Zeit zu gewinnen. Ohne dass ein Grund dafür zu bestehen schien, fürchtete sie sich fast davor, nach unten zu gehen - als ob es noch irgendetwas gäbe, was ihr das Schicksal antun konnte!
Als sie sich vom Waschbecken abwenden wollte, fiel ihr Blick wieder auf das kleine Piercing, und sie fragte sich erneut, wie die Metallnadel eigentlich hierher kam. Niemand in diesem Haus hatte Verwendung für etwas Derartiges, und die wenigen Freunde Leonies betraten niemals dieses Badezimmer, das der Familie vorbehalten war. Außerdem hatte sie keine Freunde, die sich piercten. Und dennoch konnte sie sich des immer stärker werdenden Gefühls nicht erwehren, dass es mit diesem merkwürdigen Schmuckstück etwas ganz Besonderes auf sich hatte. Ohne selbst recht zu wissen warum, nahm sie die Metallnadel vom Waschbeckenrand und steckte sie ein, bevor sie das Bad verließ.
Wie ihre Mutter angekündigt hatte, hielten sie und ihr Vater sich im Wohnzimmer auf, und wie Leonie erwartet hatte, waren sie nicht allein. Doktor Fröhlich stand hoch aufgerichtet zwischen ihnen. Sie waren offensichtlich in eine Debatte verstrickt, die man ebenso gut auch als ausgewachsenen Streit hätte bezeichnen können. Er hatte das Monokel abgenommen und fuchtelte damit herum wie der böse Zauberer aus dem Märchen mit seinem Zauberstab und seine Wangen zierten hektische rote Flecken.
»Störe ich?«, fragte Leonie.
Fröhlich brach mitten im Satz ab und sah für einen Moment regelrecht komisch aus, wie er so mit offenem Mund dastand, aber Leonie war nicht zum Lachen zumute. Für einen ganz kurzen Augenblick blitzte ein Bild in ihrer Erinnerung auf: Fröhlichs Gestalt, die sich in der Fensterscheibe des Restaurants spiegelte, unmittelbar bevor das Flugzeug explodiert war.
»Oh, hallo Leonida.« Fröhlich fand seine Fassung wieder, klemmte das Monokel ins Auge und kam auf sie zu. Bevor Leonie etwas dagegen tun konnte, ergriff er ihre Hand. Vermutlich sollte es eine Geste des Trostes sein, aber Leonie war die Berührung äußerst unangenehm. Sie zog die Hand zurück und Fröhlich sah für eine Sekunde irgendwie hilflos aus, dann fing er sich wieder.
»Mein herzliches Beileid«, sagte er. »Du armes Kind. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr ich den Verlust teile, den du erlitten hast. Deine Großmutter war eine so wunderbare Person.«
Leonie sah aus den Augenwinkeln, wie schwer es ihrer Mutter fiel, einfach dazustehen und nichts zu sagen. In ihrem Gesicht arbeitete es und sie hatte die Hände zu Fäusten geballt. Ihr Vater dagegen wirkte völlig ruhig, fast gelassen, aber Leonie ließ sich von dieser scheinbaren Gleichmut nicht täuschen. Ihr Vater sah meistens so aus, als interessiere ihn das, was in der Welt rings um ihn vorging, nicht wirklich, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Er war ein sehr aufmerksamer Beobachter, und obwohl er wenig sprach, hatte das, was er sagte, meistens Hand und Fuß.
»Danke«, sagte Leonie. »Aber Sie sind doch nicht nur gekommen, um mir das zu sagen, oder?«
Fröhlich wirkte noch irritierter als bisher. Wenn er schauspielert, dachte Leonie, dann perfekt. Er wirkte tatsächlich so, als könne er ihre Feindseligkeit nicht verstehen. »Nein, ich... nicht nur«, gestand er unsicher. »Da sind noch ein oder zwei Dinge, die geklärt werden müssen. Ich habe das meiste schon mit deinen Eltern besprochen, aber natürlich...« Er druckste einen Moment herum. »Es wäre schon vonnöten, dich anzuhören. Schon aus rein juristischen Gründen.«
»Und das muss heute sein?«, fragte Leonies Mutter. Ihre Stimme bebte, als brauche sie all ihre Kraft, um nicht loszuschreien. »Ausgerechnet jetzt, an diesem Abend? Haben Sie überhaupt kein Herz?«
»Natürlich kann ich Ihre Gefühle durchaus nachvollziehen, meine Liebe...«, begann Fröhlich.
»Das bezweifle ich«, unterbrach ihn ihre Mutter.
»... aber die Sache duldet leider keinen Aufschub, fürchte ich«, brachte Fröhlich seinen Satz in bedauerndem Tonfall zu Ende.
»Welche Sache?«, fragte Leonie.
Fröhlich sah sie kurz an, dann den Fernseher. Eine Nachrichtensendung lief und natürlich gab es nur ein Thema: den Flugzeugabsturz. Leonie ertrug es nur einen Augenblick lang, den Bildern der brennenden Wrackteile, Feuerwehr und Rettungsmannschaften, besorgt dreinblickender Flughafenangestellter und weinender Angehöriger zu folgen. Sie sah hastig wieder weg.