»Ich wünschte, es wäre so«, sagte Großmutter. Dann gab sie sich einen Ruck, tippte Wohlgemut leicht mit der Hand auf die Schulter und deutete gleichzeitig mit der anderen zum Straßenrand. »Halten Sie bitte dort vorne an, Professor.«
»Nichts da!«, protestierte Frank. »Wir fahren weiter, und zwar zügig!«
Er gestikulierte drohend mit seiner Waffen, um seinen Befehl zu unterstreichen, und Wohlgemut nickte nervös - was ihn allerdings nicht daran hinderte, den Fuß vom Gas zu nehmen und den Wagen gehorsam am Straßenrand ausrollen zu lassen. Frank ächzte, ließ Wohlgemut aber unbehelligt und drehte sich stattdessen im Sitz herum, um Großmutter einen ärgerlichen Blick zuzuwerfen. »Was soll das?«
Großmutter lächelte müde. Sie sah nicht sehr glücklich aus. In ihren Augen war ein Ausdruck, als koste sie das, was sie nun tun musste, nicht nur große Kraft, sondern auch noch größere Überwindung, und als hätte sie beinahe ein wenig Angst davor. Ohne Franks Frage zu beantworten, hob sie beide Hände vor das Gesicht und ließ sie einige Sekunden dort.
Obwohl Leonie geahnt hatte, was kam, erschrak sie so sehr, dass sie einen kleinen, spitzen Schrei ausstieß. Frank schrie nicht. Er starrte Großmutter nur an und seine Augen quollen vor Unglauben und Entsetzen schier aus den Höhlen. Das Gesicht, in das er sah, als Großmutter die Hände wieder herunternahm, war nicht mehr das einer uralten Frau, sondern das Gesicht Theresas.
»Aber das... das ist doch...«, stammelte er.
»Ich tue das nicht gern, glauben Sie mir«, sagte Theresa sanft, »aber ich fürchte, es ist der einzige Weg, um Sie davon zu überzeugen, dass wir die Wahrheit sagen.«
Leonie war nicht sicher, dass Frank die Worte überhaupt verstanden hatte. Er starrte das plötzlich wieder jung gewordene, strahlend schöne Gesicht vor sich weiter an und begann dann am ganzen Leib zu zittern. »Das ist doch unmöglich«, flüsterte er. »Ich... ich muss den Verstand verloren haben!«
»Ich wünschte fast, es wäre so«, seufzte Theresa. »Es wäre für uns alle besser.«
»Aber...«, stammelte Frank. Er sah so hilflos aus, dass er Leonie beinahe Leid tat.
»Jetzt ist weder die Zeit noch die Gelegenheit, Ihnen alles zu erklären«, fuhr Theresa fort. Sie warf einen raschen, nervösen Blick aus dem Fenster, und in ihrer Stimme war plötzlich ein ängstlicher Unterton. »Sie müssen mir einfach glauben, dass Sie Leonie nicht zurückbringen dürfen! Nicht nur für sie, sondern für uns alle. Diese Ungeheuer, die Sie gesehen haben - sie könnten bald die ganze Welt beherrschen. Und das wäre nicht einmal das Schlimmste.«
Franks Gesichtsausdruck wirkte nun beinahe gequält. Er blickte wieder auf die Waffe in seiner Hand, aber Leonie war fast sicher, dass er nun daran dachte, wie wenig sie ihm gegen die Krieger des Archivars geholfen hatte. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, als hätte er körperliche Schmerzen, und schließlich senkte er die Pistole nicht nur, sondern drückte den Sicherungshebel nach oben und steckte die Waffe unter seinen Gürtel.
Leonie atmete vorsichtig auf. Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren.
Frank sah hoch, blickte zuerst Fröhlich, dann ein wenig länger Großmutter - besser gesagt Theresa - und schließlich noch länger Leonie an. »Ihr behauptet also, das alles hier wäre nicht real?«
Leonie wollte antworten, doch Großmutter (Theresa!) kam ihr zuvor: »Nein«, sagte sie mit einem heftigen Kopfschütteln.
»Niemand würde so etwas behaupten. Das wäre Unsinn. Diese Welt hier ist nur zu real, das ist ja gerade das Problem.«
»Aha«, machte Frank. Er sah hilfloser aus als jemals zuvor, obwohl Leonie das noch vor einer Sekunde gar nicht für möglich gehalten hätte.
»Das Buch gibt seinem Besitzer nicht die Macht, Illusionen zu erzeugen«, erklärte Theresa. »Wäre es so, dann hätten wir nichts zu befürchten. Niemand kann auf die Dauer eine ganze Welt täuschen, ganz egal, wie geschickt er es auch anstellt.« Sie wiederholte ihr Kopfschütteln, und der Blick, mit dem sie den jungen Leibwächter ansah, wurde fast hypnotisch. »Das Buch gibt seinem Besitzer die Macht, die Wirklichkeit zu verändern.«
»Ja, das klingt logisch«, meinte Frank. Er lachte ganz leise, aber es klang fast hysterisch.
»Ich weiß, wie sich das anhört«, beharrte Theresa. »Ich an Ihrer Stelle würde wahrscheinlich auch kein Wort davon glauben. Aber es ist so. Ich habe keine Ahnung, wie ich es Ihnen beweisen soll, ich kann Sie nur bitten mir zu glauben.«
Vielleicht für drei Sekunden, die sich aber zu einer Ewigkeit dehnten, wurde es sehr still im Wagen. Schließlich fragte Frank »Und wie soll das funktionieren?«
»Was ist Wirklichkeit?«, fragte Fröhlich an Theresas Stelle. Er ließ eine dramatische Pause verstreichen und beantwortete seine Frage dann selbst: »Es gibt sogar eine wissenschaftliche Erklärung für den Begriff Gegenwart, wussten Sie das?«
Frank schüttelte den Kopf und Fröhlich fuhr fort: »Rein physiologisch betrachtet, ist die Zeitspanne, die wir als Gegenwart definieren, genau drei Sekunden lang.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. »Danach speichert unser Gehirn das Erlebte als Erinnerung ab.«
»Wie interessant«, sagte Frank und zog eine Grimasse. »Und?«
»Was ich damit sagen will«, erklärte Fröhlich, »ist, dass im Grunde unser gesamtes Leben nur aus Erinnerungen besteht. Manche sind frisch, weil sie erst einige Augenblicke zurückliegen, manche fast vergessen und manche sogar ganz. Und trotzdem: Stellen Sie sich vor, Sie hätten die Macht, die Erinnerungen der Menschen zu ändern. Aller Menschen.« Ein dünnes, humorloses Lächeln erschien auf seinen Lippen und er machte eine angedeutete Handbewegung. »Sie haben da eine Packung Zigaretten in der rechten Hosentasche, habe ich Recht?«
»Woher wissen Sie das?«, entfuhr es Frank. Er sah nicht wirklich erschrocken aus, aber doch ein wenig ertappt.
»Weil Sie sie immer bei sich haben«, antwortete Fröhlich. »Dabei rauchen Sie gar nicht. Schon lange nicht mehr. Sie haben nur das Gefühl, Sie müssten sie bei sich haben, nicht wahr?«
Frank sagte nichts dazu, aber das Entsetzen in seinem Blick machte Leonie klar, wie nahe Fröhlich mit seiner Vermutung der Wahrheit gekommen sein musste.
»Können Sie sich erinnern, wann Sie mit diesem Laster aufgehört haben?«, fragte Fröhlich.
»Ich...« Frank schüttelte hilflos den Kopf. »Manchmal passiert so etwas«, sagte Großmutter. »Die Erinnerung eines Menschen zu ändern kann eine Kettenreaktion in Gang setzen.«
»Wieso denn das?«
»Nehmen Sie das, was Sie gerade selbst getan haben«, erklärte Theresa. »Sie haben den Herrn Professor ziemlich unsanft auf die Straße hinausgeschoben. Etliche Menschen haben es beobachtet. Manche davon werden sich ihre Gedanken gemacht und mit anderen darüber gesprochen haben. Sie erzählen es vielleicht zu Hause ihren Männern oder Frauen und diese wiederum erzählen es im Büro oder im Supermarkt weiter. Jemand ist nur kurz stehen geblieben, um Ihnen zuzusehen und sich zu wundern, und befindet sich deshalb, sagen wir eine halbe Stunde später, nicht genau an der Stelle, an der er gewesen wäre, hätte er seinen Weg im gleichen Tempo fortgesetzt. Wer weiß - vielleicht stürzt ein Dachziegel herunter und erschlägt ihn, nur weil er eine halbe Sekunde später an der betreffenden Stelle ankommt. Damit wäre nicht nur sein Leben zu Ende, sondern es würde auch Auswirkungen auf das Leben seiner Familie, seiner Freunde, seiner Arbeitskollegen haben... auf alles. Und nun stellen Sie sich vor, jemand besitzt die Macht, genau diese Szene zu ändern. Sie stoßen den Herrn Professor nicht so grob auf die Straße. Niemand muss ihm ausweichen und niemand hat etwas zu erzählen. Der Dachziegel verfehlt sein Opfer und er bleibt am Leben. Was aber, wenn genau dieser Mensch irgendwann selbst einen Unfall verursacht, bei dem ein anderer ums Leben kommt? Oder eine gewaltige Katastrophe mit Hunderten von Opfern?«