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»Aber das ist sie doch längst«, antwortete Frank verwirrt. »Diese Zeiten sind...«

»... längst vorbei?«, unterbrach ihn Vater mit einem dünnen Lächeln und einem Kopfschütteln. »Vielleicht nicht ganz so lange, wie Sie zu glauben scheinen.« Er schenkte Leonie einen viel sagenden Blick, dann erlosch sein Lächeln wie abgeschaltet und er klappte das Buch zu. »Genug«, sagte er. »Sie haben gute Arbeit geleistet, Frank. Ich werde mich dafür erkenntlich zeigen. Aber nun müssen wir uns um unsere Gäste kümmern.«

»Und was soll das heißen?«, fragte Theresa. Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf das Buch. »Willst du deinen Stift zücken und dafür sorgen, dass es uns niemals gegeben hat?«

»Ich frage mich wirklich, warum Sie mir immerzu solche schrecklichen Dinge unterstellen, junge Dame.« Vater klang verletzt. »Einmal davon abgesehen, dass es viel zu kompliziert wäre, würde ich so etwas nie tun.«

»So wie bei deiner Frau, nicht?«, fragte Theresa böse.

Ein Schatten huschte über Vaters Gesicht. Eine Sekunde lang starrte er sie nur so wütend an, wie Leonie ihn selten zuvor gesehen hatte, dann schlug er das Buch mit einem Knall zu und stand in der gleichen Bewegung auf. »Das reicht!«, sagte er scharf. »Keinem von Ihnen wird etwas geschehen, das verspreche ich Ihnen. Aber ich verspreche Ihnen auch, dass ich dafür Sorge tragen werde, dass Sie nie wieder Gelegenheit haben, meiner Tochter auch nur nahe zu kommen.« Er drückte einen verborgenen Knopf unter der Schreibtischkante und fügte lauter und offenbar in Richtung eines versteckt angebrachten Mikrofons hinzu: »Hendrik! Sie können unsere Gäste jetzt wegbringen. Um meine Tochter kümmere ich mich selbst.«

Draußen auf dem Gang wurden Schritte laut, die rasch näher kamen. Leonie starrte ihren Vater an, dann Theresa und für einen winzigen, aber endlosen Moment noch einmal ihren Vater - und dann tat sie etwas, was sie selbst von allen Anwesenden vielleicht am meisten überraschte: Sie beugte sich blitzschnell vor, ergriff das Buch mit beiden Händen und riss es an sich.

»Leonie«, seufzte ihr Vater. »Was soll denn das?« Er machte zwei Schritte um den Schreibtisch herum und streckte die Hand aus, blieb aber wieder stehen, als Leonie das Buch wie einen kostbaren Schatz an die Brust presste und erschrocken vor ihm zurückwich. Er sah nicht wirklich ärgerlich aus, sondern vielmehr ein bisschen enttäuscht.

»Du hast kein Recht dazu!«, rief Leonie. »Verstehst du denn nicht, wie falsch das ist, was du tust?«

Ihr Vater seufzte erneut. »Leonie, bitte sei vernünftig! Zwing mich doch nicht, es dir mit Gewalt wegzunehmen.«

Leonie wich einen weiteren Schritt vor ihm zurück und drückte das Buch noch fester an sich. Ihr Vater machte einen halben Schritt, dann ließ er den Arm mit einem resignierten Laut sinken und wandte sich mit einem auffordernden Blick an Frank.

»Frank.«

Leonie versuchte noch weiter vor ihrem Vater zurückzuweichen, aber hinter ihr war jetzt nur noch das geschlossene Fenster. Sie presste sich so fest an das kalte Glas, dass sie Angst gehabt hätte, es zu zerbrechen, wäre es nicht eine Panzerglasscheibe gewesen. Ihr Blick irrte verzweifelt auf der Suche nach einem Fluchtweg umher. Aber es gab keinen. Der einzige Weg hier hinaus war die Tür, vor der Frank stand, und selbst wenn sie irgendwie an ihm vorbeigekommen wäre (was vollkommen unmöglich war), so hörte sie von draußen Hendriks Schritte, der in längstens drei oder vier Sekunden ebenfalls hier sein musste.

»Worauf warten Sie?«, fragte ihr Vater unwillig.

Die Worte galten Frank, der noch einen ganz kurzen Moment unschlüssig dastand - und sich dann umdrehte und die Tür schloss!

Leonies Vater blinzelte. Anscheinend verstand er nicht genau, was Frank tat, ebenso wenig wie Leonie selbst. »Was soll das?«, fragte er.

Statt einer Antwort legte Frank den Riegel vor, drehte sich um und zog seine Pistole.

Vater ächzte. »Sind Sie verrückt geworden? Sie sollen Leonie das Buch wegnehmen, nicht sie mit der Waffe...« Seine Stimme versagte und seine Augen weiteten sich ungläubig, als er sah, dass die Pistole in Franks Hand nicht auf Leonie deutete.

Sondern auf ihn.

»Sind... sind Sie komplett wahnsinnig geworden?«, murmelte er.

Frank fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Seine Hände begannen zu zittern, aber die Mündung der Pistole blieb unverrückbar auf Vaters Brust gerichtet. »Leonie«, sagte er.

Leonie rührte sich nicht, sondern starrte ihn nur ebenso fassungslos wie ihr Vater an. Sie verstand womöglich noch weniger als er, was hier überhaupt vorging.

»Was soll das?«, fragte ihr Vater wieder. Er hatte seine Überraschung überwunden und machte eine energische Bewegung auf Frank zu, blieb aber sofort stehen, als dieser drohend mit der Pistole herumfuchtelte. »Sie... Sie schießen nicht auf mich«, behauptete er. Aber seine Stimme klang nicht so überzeugt, wie er es vielleicht selbst gern gehabt hätte. »Sie würden mich doch nicht umbringen, oder?«

»Nein«, antwortete Frank. »Aber ich hätte kein Problem damit, Ihnen ins Bein zu schießen, wenn es sein muss, oder in die Schulter.«

Leonies Blick wanderte immer verstörter von einem Gesicht zum anderen. Ihr Vater sah ebenso verwirrt und bestürzt aus wie Frank nervös, nur Theresas Gesicht wirkte auf sonderbare Weise gefasst, als überraschte sie das alles hier nicht im Geringsten. Leonie hingegen fühlte sich immer hilfloser. Sie presste das Buch weiter wie einen Schatz an sich, und sie hätte einfach nicht sagen können, was sie tun sollte. Ihre Gedanken drehten sich wie wild im Kreis, aber die Verwirrung hinter ihrer Stirn wurde immer nur noch größer.

Ihr Vater hingegen schien seine Fassung mittlerweile vollends zurückgewonnen zu haben. Er ging nicht weiter auf Frank zu, und sei es nur aus Angst, dass der arme Bursche vielleicht aus lauter Nervosität auf ihn schoss, aber er verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und zwang sogar so etwas wie ein abfälliges Lächeln auf seine Lippen. »Und jetzt?«, fragte er herausfordernd. »Wie soll es jetzt weitergehen?«

»Das weiß ich nicht«, gestand Frank. »Ich weiß nur, dass Ihre Tochter Recht hat. Dieses... Ding steht Ihnen nicht zu. Kein Mensch sollte eine solche Macht haben.«

»Ich wusste ja gar nicht, dass Sie ein Philosoph sind«, antwortete Leonies Vater mit ätzendem Spott. Er schüttelte den Kopf. »Aber reden Sie ruhig. Wir haben Zeit. Die Tür ist ziemlich stabil. Ihre Kollegen werden eine Weile brauchen um sie aufzubekommen. Aber sie bekommen sie auf, mein Wort darauf.« Er wartete einen Moment vergebens auf eine Antwort, dann nahm er die Arme herunter und wandte sich Leonie zu. »Und du?«, fragte er. »Siehst du das auch so?«

Leonie hatte nicht die Kraft, zu antworten, so wenig wie sie die Kraft hatte, seinem Blick standzuhalten. Sie presste das Buch nur weiter an sich. Ihre Gedanken tobten immer noch wild hinter ihrer Stirn, und sie hätte in diesem Moment zehn Jahre ihres Lebens dafür gegeben, auch nur auf eine der tausend Fragen, die sie quälten, eine Antwort zu finden.

»Du beanspruchst das Buch also für dich?«, fuhr ihr Vater fort. »Nur zu. Nimm einen Stift und fang an.« Er lachte böse und deutete auf Theresa. »Deine Freundin hat mir vorgeworfen, ich wollte Gott spielen. Willst du jetzt dasselbe tun?« Er schüttelte heftig den Kopf, um seine eigene Frage zu beantworten. »Du weißt, dass du nicht damit umgehen kannst, Leonie. Du würdest nur Schaden damit anrichten.«

Und das Schlimmste war, dass er damit Recht hatte. Leonie gestand sich ein, noch nicht ein einziges Mal daran gedacht zu haben, was sie eigentlich mit dem Buch anfangen würde, sollte es tatsächlich irgendwie in ihren Besitz gelangen. Ihr Vater hatte Recht. Selbst wenn sie die Möglichkeit dazu hatte - sie konnte Millionen und Abermillionen Veränderungen, die er bereits vorgenommen hatte, nicht rückgängig machen. Alles, was sie konnte, war noch mehr Schaden anrichten.