»Sei vernünftig, Leonie«, drängte ihr Vater. Er deutete auf Theresa, dann auf Frank. »Von deiner Freundin da habe ich nichts anderes erwartet und von diesem romantischen jungen Dummkopf auch nicht. Aber von dir erwarte ich mehr. Du weißt, dass ich Recht habe. Du kannst nichts mit dem Buch anfangen.«
Leonie nickte zögernd. »Das muss ich auch nicht«, antwortete sie. Plötzlich war alles ganz klar, und sie fragte sich, wieso sie nicht gleich auf die einzige mögliche Lösung gekommen war, die doch so deutlich auf der Hand lag.
»Was meinst du damit?«, fragte Vater misstrauisch.
Leonie antwortete nicht, sondern trat langsam auf Theresa zu. In den Augen der jungen Frau erschien ein überraschter Ausdruck, aber da war noch mehr. Etwas, das Leonie verwirrte und sogar alarmiert hätte, wäre sie nicht viel zu durcheinander gewesen, um an irgendetwas anderes zu denken als an das Buch in ihren Armen und die schreckliche Verantwortung, die sein Besitz bedeutete. »Ich gebe es dir zurück«, erklärte sie. »Es hat immer dir gehört und es soll dir auch weiter gehören. Ich will es nicht.«
Theresas Augen leuchteten auf und hinter Leonie sog ihr Vater scharf und fast entsetzt die Luft ein. »Was tust du da?!«, keuchte er. »Leonie!«
»Nimm es«, sagte Leonie. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass das Buch in ihren Armen eine Tonne wog. »Nimm es zurück«, sagte sie noch einmal.
Theresa streckte die Arme nach dem Buch aus, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne und sah sie sehr ernst und durchdringend an. »Bist du sicher?«, fragte sie, machte aber auch gleichzeitig eine rasche, abwehrende Handbewegung, als Leonie sofort antworten wollte. »Ich meine: Bist du wirklich sicher, dass du das auch willst? Du weißt, dass ich nicht das bin, was du im Moment in mir siehst.«
Natürlich war sie das nicht. Sie sah aus wie Theresa, sie sprach wie Theresa und bewegte sich wie Theresa, aber Leonie hatte schließlich mit eigenen Augen gesehen, wer sie wirklich war.
»Ich bin sicher«, antwortete sie. Wenn sie sich jemals über etwas völlig sicher gewesen war, dann in diesem Moment. Ihr Vater hatte vollkommen Recht, wenn auch auf eine gänzlich andere Weise, als er selbst annehmen mochte: Sie war dieser entsetzlichen Verantwortung nicht nur nicht gewachsen, sie wollte sie nicht. Um nichts in der Welt. »Nimm es!«, bat sie. »Ich will, dass es dir gehört.«
Hinter ihr ächzte ihr Vater in schierem Entsetzen. »Leonie! Ich flehe dich an! Du weißt ja nicht, was du tust!«
Aber sie hatte noch niemals etwas so genau gewusst wie jetzt. Sie schüttelte noch einmal den Kopf, um ihren Entschluss zu bekräftigen, und streckte die Arme aus, in denen sie das Buch hielt. Theresa griff jedoch auch jetzt noch nicht danach, sondern sah sie abermals für eine endlose Sekunde lang durchdringend an und fragte dann mit leiser, sehr ernster Stimme: »Und es ist wirklich dein freier Entschluss? Du gibst mir das Buch und damit die Macht, es zu ändern?«
»Ja«, antwortete Leonie.
Theresa schloss für eine Sekunde die Augen. Ein Ausdruck unendlicher Erleichterung machte sich auf ihrem Gesicht breit, dann griff sie langsam, mit einer fast feierlichen Bewegung nach dem Buch, nahm es Leonie aus den Armen und presste es auf die gleiche Weise an sich wie Leonie zuvor, als wäre es der kostbarste Schatz der Welt, »Danke«, sagte sie.
Aber sie sagte es nicht mehr mit Theresas Stimme. Sie trat einen Schritt zurück, dann einen zweiten, bis sie genau zwischen Wohlgemut und Fröhlich stand, und ihre Gestalt begann auf unheimliche Weise zu... zerfließen. Ihre Umrisse wurden unscharf, flackerten, setzten sich neu zusammen, und es vergingen nur wenige Augenblicke, bis Leonie nicht mehr in Theresas vertrautes Gesicht blickte.
Aber auch nicht in das ihrer Großmutter.
Hinter ihr keuchte ihr Vater vor Entsetzen auf, und auch Leonie taumelte zurück, als hätte ihr jemand ins Gesicht geschlagen, und starrte die Gestalt, die zwei Schritte vor ihr stand und das Buch an sich drückte, aus hervorquellenden Augen an. Ihr Denken setzte für einen Moment aus, und ihr war, als würde sie innerlich zu Eis erstarren. Sie wusste, wem sie gegenüberstand, aber sie weigerte sich einfach es zu glauben.
»Ich danke dir«, sagte der Archivar.
Der Archivar
Die Luft war feucht und roch muffig nach dem faulenden Stroh, das auf dem Boden der steinernen Zelle lag. Es war sehr dunkel und so kalt, dass sie ihren Atem als regelmäßige Folge grauer Dampfwölkchen vor dem Gesicht hätte erkennen können, hätte sie etwas gesehen. Die schweren Eisenringe, mit denen ihr rechtes Hand- und ihr linkes Fußgelenk an der Wand festgekettet waren, hatten ihre Haut längst wund gescheuert, sodass jede noch so vorsichtige Bewegung Wellen von Schmerz durch ihren Körper toben ließ, und sie hatte entsetzlichen Durst. Seit man sie hier hereingebracht hatte - vor vielen, vielen Stunden -, hatte sie weder etwas zu essen noch etwas zu trinken bekommen. Die Tür hatte sich kein einziges Mal wieder geöffnet, nachdem sie das Geräusch des großen Schlüssels gehört hatte, der sich in dem altmodischen Schloss drehte. Niemand hatte sich um sie gekümmert. Niemand schien sich für sie zu interessieren.
Nichts von alledem berührte Leonie wirklich. Die Dunkelheit, die sie umgab, hatte sich auch in ihrem Inneren eingenistet. Es war eine Dunkelheit, die allumfassend war, die nicht nur ihre Gedanken und ihre Seele verschlungen hatte, sondern tiefer ging. Es war das Gefühl, besiegt zu sein, ein für alle Mal und endgültig. So wie vorhin, als sie zusammen mit den anderen im Wagen auf dem Rückweg zu ihrem Elternhaus gewesen war, nur ungleich stärker, lähmender und auf eine schwer in Worte zu kleidende Weise quälender. Es war Leonie gleich, was mit ihr geschah. Seit die Krieger des Archivars sie gepackt und hier heruntergeschleppt hatten, hatte sie nicht einen einzigen Gedanken an ihr Schicksal verschwendet. Wozu auch? Es war vorbei. Sie hatte den größten Kampf ihres Lebens gekämpft und verloren, und das Allerschlimmste daran war vielleicht, dass sie selbst das erst begriffen hatte, als es längst zu spät war.
Das Einzige, was sie wirklich fühlte, war Verbitterung. Sie war so naiv gewesen! Wie hatte sie sich auch nur eine einzige Sekunde lang einbilden können, es mit einem Geschöpf wie dem Archivar aufnehmen zu können, einem Wesen, dessen Essenz Bosheit und Tücke waren und das unendlich viel Zeit gehabt hatte, sich auf diesen Moment vorzubereiten?
Auf der anderen Seite der massiven Eisentür, die ihr Gefängnis verschloss, erscholl für einen Moment Lärm: Hastige Schritte und ein dumpfes Poltern und Krachen, etwas wie grunzende Schreie und vielleicht ein Schlag, dem ein dumpfes Stöhnen folgte. Leonie schrak für einen Moment aus dem dumpfen Brüten hoch, in das sie versunken war. Plötzlich spürte sie, wie kalt es hier drinnen war, wie sehr ihre Fesseln schmerzten und wie hungrig und durstig sie war. Instinktiv bewegte sie sich, aber das Ergebnis war nur eine Woge neuen Schmerzes, die durch ihren Körper schoss. Dennoch bäumte sie sich in einem Anfall fast kindlichen Trotzes noch stärker gegen ihre Fesseln auf und stieß einen kleinen, gequälten Schrei aus, als der brennende Schmerz, der von den aufgeschürften Stellen an ihren Hand- und Fußgelenken ausging, nur noch schlimmer wurde.
Der Lärm draußen auf dem Gang nahm für einen Moment noch zu und brach dann schlagartig ab, um einer umfassenden Stille Platz zu machen. Das Geräusch eines Schlüssels erklang, der in einem uralten, hörbar seit langer Zeit nicht mehr benutzten Schloss gedreht wurde, dann erschien ein senkrechter Streifen aus grellem Licht, der rasch breiter wurde und sich in das hell erleuchtete Rechteck einer offen stehenden Tür verwandelte. Leonie presste für einen Moment die Lider aufeinander, als das grelle Licht in ihren an die Dunkelheit gewöhnten Augen schmerzte, aber dann zwang sie sich, in das hell erleuchtete Rechteck zu sehen. Unter der Tür war eine große, nur als scharf abgegrenzter, schwarzer Umriss erkennbare Gestalt erschienen. Sie hatte keine Hörner, Klauenhände oder irgendwelche Waffen, und doch erschreckte ihr Anblick Leonie mehr, als es der jedes Ungeheuers gekonnt hätte.