Einige Sekunden lang stand der Archivar einfach nur da und starrte sie aus seinen schrecklichen, unsichtbaren Augen an, dann wich er zurück und an seiner Stelle wuselten drei oder vier Scriptoren herein. Eine der kleinen Kreaturen trug eine Fackel, deren flackerndes rotes Licht den Bewegungen der kindsgroßen, in schwarze Mäntel gehüllten Gestalten etwas seltsam Unwirkliches verlieh. Der Fackelträger blieb unter der Tür stehen, während die anderen rasch auf Leonie zuschritten und sich an den beiden Eisenringen zu schaffen machten, die sie an die Wand fesselten. Sie gingen dabei alles andere als sanft vor, sodass Leonie vor Schmerz die Tränen in die Augen schossen, aber es dauerte nur einen Moment, bis sie frei war.
Das Einzige, wozu sie ihre neu gewonnene Freiheit allerdings im ersten Augenblick nutzen konnte, war, mit einem schmerzerfüllten Seufzen zusammenzubrechen. Sie musste doch länger in dieser unbequemen Stellung an die Wand gefesselt dagestanden haben, als ihr bisher selbst bewusst gewesen war, denn ihre Beine verwehrten ihr einfach den Dienst. Sie wäre zu Boden gestürzt, hätten die beiden Scriptoren sie nicht im letzten Moment aufgefangen.
Die Scriptoren wären allerdings keine Scriptoren gewesen, hätten sie die Gelegenheit nicht genutzt, sie ein bisschen zu kneifen und zu zwicken, sodass Leonie vor Schmerz schon wieder die Luft zwischen den Zähnen einsog und sich mit einer ganz instinktiven Bewegung zu befreien versuchte.
»Lass das!«, keifte einer der Scriptoren. »Das nutzt dir sowieso nichts.«
Die beiden Knirpse zerrten sie grob auf die Füße und einer von ihnen versetzte Leonie einen Stoß, der sie in Richtung Tür stolpern und beinahe hinfallen ließ.
»Stell dich nicht so an!«, giftete er. »Das hier ist noch gar nichts gegen das, was dich erwartet.« Er lachte meckernd, sah Leonie aufmerksam ins Gesicht, wie um sich davon zu überzeugen, dass seine Drohung auch entsprechend angekommen war, und wirkte dann ein bisschen enttäuscht. Leonie nahm seine Drohung durchaus ernst, aber sie hatte einfach keine Kraft mehr, wirklich zu erschrecken. Es war, als wäre etwas in ihr bereits gestorben. Alles, was man ihr antun konnte, hatte man ihr bereits angetan.
Obwohl es nicht nötig war, ergriffen die beiden Scriptoren sie grob an den Armen und zerrten sie auf den Gang hinaus. Während sie unsanft davongeschleift wurde, versuchte Leonie sich zu orientieren, aber viel zu sehen gab es nicht. Der Gang unterschied sich nicht von den unzähligen anderen Stollen und Korridoren, die sie hier unten schon kennen gelernt hatte: düstere Wände aus grob vermauerten Ziegelsteinen, in deren Fugen sich Schimmel und Moder eingenistet hatten, eine gewölbte Decke und überall niedrige Türen aus rostigem, schwarzem Eisen, in die winzige vergitterte Gucklöcher eingelassen waren. Er schien endlos zu sein. Sowohl vor als auch hinter ihr verlor er sich in dunstig-grüner Weite, in der manchmal die vage Andeutung einer Bewegung zu erkennen war und aus der dann und wann unheimliche, hallende Laute an ihr Ohr drangen. Von dem Archivar selbst war nichts mehr zu sehen, aber Leonie glaubte seine Anwesenheit zu spüren, als wäre er unsichtbar überall um sie herum und starrte sie aus seinen schrecklichen, alles durchdringenden Augen an.
»Wohin bringt ihr mich?«, murmelte sie.
Einer der Scriptoren lachte hässlich. »Nur Geduld«, höhnte er. »Du landest schon noch früh genug im Leimtopf. Aber vorher haben wir noch eine kleine Überraschung für dich.«
»Wir sind ja keine Unmenschen«, kicherte der andere Scriptor. »Da wartet jemand auf dich. So etwas wie eine... Familienzusammenführung, gewissermaßen.«
Leonie ersparte es sich, eine weitere Frage zu stellen, die die Scriptoren ohnehin gar nicht oder nur mit einer neuen Gehässigkeit beantwortet hätten. Sie versuchte ihre Schritte ein wenig zu beschleunigen, damit die beiden kleinen Quälgeister nicht mehr ganz so derb an ihren Armen zerren mussten, erreichte damit aber nur, dass die Scriptoren ihrerseits schneller gingen und sich nichts änderte; abgesehen davon, dass ihr das Gehen nun noch mehr Mühe bereitete.
Glücklicherweise war der Weg nicht mehr allzu weit. Sie passierten vielleicht noch ein Dutzend der geschlossenen Eisentüren, dann hielten die Scriptoren vor einer Zelle an. Einer von ihnen kramte einen gewaltigen Schlüsselbund unter seinem Mantel hervor, an dem sich sicherlich dreißig oder vierzig vollkommen gleich aussehende Schlüssel befanden, pickte mit unglaublicher Zielgenauigkeit den richtigen heraus und schob ihn ins Schloss. Leonie registrierte, dass er ihn mindestens vier- oder fünfmal herumdrehte, bevor die Tür mit einem Klacken aufsprang.
Die Zelle dahinter war so winzig und dunkel wie die, in der sie bis eben noch gewesen war. Ein Schwall feuchtkalter, verbraucht riechender Luft schlug ihr entgegen, und sie hörte ein gedämpftes Rascheln, als bewege sich etwas in der Dunkelheit jenseits der Tür. Möglicherweise war da auch ein Schatten, aber sie war nicht ganz sicher.
»Nur keine Hemmungen«, kicherte einer ihrer gnomenhaften Begleiter. Der andere machte eine auffordernde Handbewegung und deutete eine spöttische Verbeugung an, wobei er sich gleichzeitig rückwärts gehend auf die Tür zubewegte wie ein Höfling, der eine Prinzessin zu ihrem Bräutigam geleitet hatte. Leonie machte einen einzelnen, zögernden Schritt in die Zelle hinein und blieb wieder stehen. Das Rascheln wiederholte sich und wurde nun von einem leisen Klirren begleitet, das sie an das Geräusch erinnerte, das ihre eigenen Ketten verursachten, wenn sie versucht hatte sich zu bewegen. Ihre Augen gewöhnten sich schneller an die Dunkelheit hier drinnen, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sie konnte immer noch keine Einzelheiten sehen, erkannte aber zumindest einen zusammengekauerten Schatten vor der gegenüberliegenden Wand. Ihr Herz begann schneller zu schlagen.
»Du bist ein ungezogenes Mädchen, weißt du das eigentlich?«, höhnte einer der Scriptoren von der Tür her. »Willst du deine liebe Verwandte nicht in die Arme schließen und gebührend begrüßen, nach so langer Zeit?«
Leonie warf dem hässlichen Zwerg einen raschen, verwirrten Blick zu, als sich dieser kurzerhand umdrehte und seinem Kumpan auf den Gang hinaus folgte, und machte dann einen weiteren, noch zaghafteren Schritt in die Zelle hinein. Und dann schrie sie auf.
»Großmutter!«
Mit einem einzigen Satz war sie bei der zusammengesunkenen Gestalt, ließ sich auf die Knie fallen und breitete die Arme aus - doch dann erstarrte sie im allerletzten Moment wieder. Ihr Herz hämmerte so sehr, dass sie es bis in die Fingerspitzen fühlen konnte, und ihre Gedanken überschlugen sich. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie in das Gesicht ihrer Großmutter, und dennoch wagte sie es nicht, sie zu berühren. Es war ihre Großmutter, daran bestand nicht der geringste Zweifel, auch wenn sie sich auf schreckliche Weise verändert hatte.
Sie sah älter aus, als Leonie sie in Erinnerung hatte, ausgezehrt und unendlich müde. Ihr Haar hing ihr wirr in die Stirn und ihre Kleider bestanden nur noch aus schmutzigen Fetzen, die um ihre abgemagerten Glieder schlotterten. Genau wie Leonie selbst war auch sie mit schweren eisernen Ringen an die Wand gekettet, die jede Bewegung zu einer Tortur machen mussten, und genau wie sie schien sie jeden Lebenswillen und jedes bisschen Kraft verloren zu haben, denn obwohl in ihren trüb gewordenen Augen ein schwacher Funke von Wiedersehensfreude aufglomm, als sie Leonie erkannte, schaffte sie es nicht einmal mehr, den Kopf zu heben, und das Lächeln, das sie auf ihre ausgetrockneten, rissigen Lippen zwingen wollte, geriet zu einer Grimasse.
Aber war es wirklich ihre Großmutter? Für einen Moment loderte eine wilde Wiedersehensfreude in Leonie hoch. Sie wollte nichts mehr als ihre Großmutter - endlich! - in die Arme zu schließen. Aber sie wagte es nicht. Die Erinnerung an die grausame Täuschung, der sie schon einmal erlegen war, war einfach zu stark. Wer sagte ihr denn, dass es tatsächlich Großmutter war und nicht nur ein weiterer, grausamer Scherz, den sich der Archivar mit ihr erlaubte?