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»Leonie«, murmelte Großmutter. Ihre Stimme war nur ein Flüstern. »Also hat er dich am Ende auch noch bekommen.« Sie schüttelte müde den Kopf. »Und ich hatte so gehofft, dass du meine Warnung erhältst.«

Es dauerte noch einen Moment, aber dann begriff Leonie, wie diese Worte gemeint waren. Und in der gleichen Sekunde wurde ihr auch klar, dass sie genau diese Zelle und dieses erbarmungswürdige Zerrbild dessen, was ihre Großmutter einmal gewesen war, nicht zum ersten Mal sah.

Es war noch nicht einmal lange her. Es war das Bild, das sie auf dem Fernsehschirm gesehen hatte, kurz bevor Frank und seine Männer das Haus stürmten und ihre Welt endgültig in Stücke brach. Und es war diese Erkenntnis, die Leonie endgültig davon überzeugte, diesmal nicht einem Trugbild zu erliegen, das der Archivar geschickt hatte um sie zu quälen.

Mit einem Aufschrei warf sie sich vor und schloss ihre Großmutter in die Arme.

Lange spürte sie nichts anderes als Erleichterung und unendliche Freude darüber, ihre geliebte Großmutter wiederzusehen. Sie lebte! Hätte sie noch einen weiteren Beweis gebraucht, dass sie es wirklich war und kein diabolischer Doppelgänger, hätte ihr diese Umarmung endgültige Gewissheit gegeben: In dem Moment, in dem sie sie berührte, spürte sie, dass es ihre Großmutter war.

Leonie hätte sicher noch länger so dagesessen und ihre Großmutter an sich gedrückt, hätte diese nicht plötzlich ein leises Seufzen von sich gegeben, das ihr klar machte, dass ihr die stürmische Begrüßung vermutlich Schmerzen bereitete, zumindest aber den Atem raubte. Hastig ließ Leonie sie los, kroch auf den Knien ein kleines Stück zurück und stammelte: »Entschuldige. Ich... ich wollte dir nicht...«

»Ist schon gut.« Großmutter lächelte, auch wenn ihre Kraft nicht mehr ausreichte, dieses Lächeln irgendwo anders als in ihren Augen Gestalt annehmen zu lassen. »Ich bin so erleichtert, dass du hier bist.« Sie stutzte, deutete ein Kopfschütteln an und verbesserte sich hastig: »Natürlich nicht, dass du hier bist. Aber dich lebendig zu sehen.«

»Aber was ist denn nur passiert?«, murmelte Leonie verständnislos. »Wie kommst du hierher? Wieso...« Sie sprach nicht weiter, sondern biss sich fast schuldbewusst auf die Lippen, aber ihre Großmutter führte die Frage an ihrer Stelle zu Ende.

»Wieso ich noch lebe?«

»Nein! Ich meine natürlich...« Wieder versagte Leonie die Stimme. Ihre Gedanken drehten sich so ziellos im Kreis, dass ihr beinahe schwindelig davon wurde.

»Es ist eine lange Geschichte«, sagte Großmutter. »Ich war so dumm. Es tut mir so unendlich Leid, Leonie. Alles, was ich dir und deiner Mutter und deinem Vater angetan habe... ich wollte, ich könnte es ungeschehen machen.«

»Du?«

Diesmal antwortete Großmutter nicht gleich, sondern versuchte sich etwas bequemer hinzusetzen, was aber von den eng anliegenden eisernen Fesseln verhindert wurde. Immerhin gelang es ihr, den Kopf gegen den rauen Stein hinter sich sinken zu lassen und für einen Moment die Augen zu schließen. Leonie brach fast das Herz, als sie sah, wie krank, erschöpft und mitgenommen ihre Großmutter wirklich aussah. Bevor diese ganze schreckliche Geschichte ihren Anfang genommen hatte, war Leonie immer voller Bewunderung darüber gewesen, wie kraftvoll und jung ihre Großmutter trotz ihrer mehr als achtzig Jahre noch wirkte. Die Frau, in deren Gesicht sie nun blickte, sah aus, als wäre sie mindestens hundert und von einer langen, schweren Krankheit gezeichnet. Ihr Gesicht war so eingefallen, dass die Knochen scharf durch die Haut stachen, und ihr Haar war dünn geworden und begann hier und da in Strähnen auszufallen. Selbst ohne die schweren Eisenketten, die sie an die Wand fesselten, hätte sie ihr Gefängnis kaum verlassen, ja vielleicht nicht einmal aufstehen können. Als sie nach Sekunden, die Leonie wie eine Ewigkeit vorkamen, die Lider hob, da waren ihre Augen von einem Schmerz erfüllt, dessen bloßer Anblick Leonie auch beinahe die Tränen in die Augen steigen ließ.

»Es tut mir so unendlich Leid«, murmelte sie. »Kannst du mir verzeihen?«

»Aber was denn nur?«, wunderte sich Leonie. Sie verstand nicht, wovon Großmutter überhaupt sprach.

»Es ist alles meine Schuld«, sagte Großmutter, nicht zum ersten Mal, aber nun in sonderbar bitterem und zugleich fast ausdruckslosem Ton. »Ich hätte es besser wissen müssen. Ich war eine dumme alte Frau, die gedacht hat, dass ihr nichts mehr passieren kann. Dabei hätte ich wissen müssen, dass Hochmut vielleicht die schlimmste aller Sünden ist. Zumindest aber die dümmste.«

»Hochmut?«

Großmutter nickte. »Es war nicht das erste Mal, weißt du? Er hat schon einmal versucht, mich zu überlisten, und es wäre ihm beinahe gelungen.«

»Der Archivar?«, fragte Leonie.

»Ich war damals nicht viel älter als du heute«, bestätigte Großmutter. Ihre Stimme wurde noch leiser und ihr Blick schien auf eine unendlich lange zurückliegende Vergangenheit gerichtet. Leonie war nicht einmal sicher, dass Großmutter tatsächlich noch mit ihr sprach. Vielleicht waren die Erinnerungen, die ihre eigenen Worte heraufbeschworen hatten, einfach so übermächtig, dass sie sie aussprechen musste, um nicht daran zu zerbrechen. »Meine Mutter - deine Urgroßmutter - ist früh gestorben. Viel zu früh. Ich hatte kaum Zeit, sie wirklich kennen zu lernen, und noch viel weniger, zu begreifen, was die Gabe wirklich bedeutet, die sie mir hinterlassen hatte. Er hat das gewusst. Und er hat seine Chance erkannt und versucht sie zu nutzen.«

»Der Archivar«, sagte Leonie noch einmal. Als ihre Großmutter nickte, fragte sie: »Was ist passiert?«

»Es ist eine lange und schlimme Geschichte, mein Kind«, antwortete Großmutter. »Jetzt ist nicht der Moment, sie zu erzählen, und ich fürchte, uns würde auch nicht genügend Zeit dafür bleiben. Ich war damals noch viel mehr ein Kind, als du es heute bist. Viel naiver und gutgläubiger. Und auch viel dümmer, wie mir heute klar ist. Um ein Haar hätte er sein Ziel erreicht, und hätten die anderen Hüterinnen und viele gute Freunde und Freundinnen nicht alles riskiert um mir zu helfen, dann hätte er schon damals die Macht über das Archiv an sich gerissen. Wir konnten seinen Angriff abwehren, doch um einen schrecklichen Preis.«

Sie schwieg wieder einige Sekunden lang traurig. Leonie wartete darauf, zu erfahren, wie dieser Preis ausgesehen hatte - und vor allem, wie es Großmutter und den anderen am Ende gelungen war, den Angriff des Archivars zurückzuschlagen -, aber die Zeit verging, die Sekunden reihten sich aneinander und wurden schließlich zu einer Minute, dann seufzte ihre Großmutter tief und ihr Blick kehrte aus den Abgründen einer längst begraben gehofften Vergangenheit zurück in die Gegenwart und suchte den Leonies. »Seither haben weder ich noch eine der anderen jemals wieder etwas von ihm gehört. Fast ein ganzes Menschenleben lang hat er sich im Verborgenen gehalten, aber nun ist mir klar, dass genau dies sein Plan war. Uns in Sicherheit zu wiegen. Uns glauben zu lassen, er wäre endgültig besiegt und keine Gefahr mehr. Und dieser Plan ist aufgegangen. Durch meine Schuld.«

»Aber wieso denn nur?«

»Weil ich es gewusst habe«, antwortete Großmutter. Leonie spürte, wie schwer es der alten Frau fiel, diese fünf simplen Worte auszusprechen. Sie hatte plötzlich nicht mehr die Kraft, Leonies Blick standzuhalten, sondern starrte auf den mit faulem Stroh bedeckten Boden. »Erinnerst du dich an jenen Morgen, an dem wir zusammen zur Zentralbibliothek gefahren sind?«

»Natürlich«, antwortete Leonie. Wie sollte sie diesen Tag vergessen haben?

»Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt, Leonie«, fuhr Großmutter fort. »Ich habe dir gesagt, dass wir dorthin gehen, um dir eine Stelle als Praktikantin zu besorgen, und das war die Wahrheit - aber längst nicht die ganze. Ich hatte schon seit einer Weile gespürt, dass sich seine Macht wieder regte. Am Anfang wollte ich es nicht wahrhaben und hielt es für die albernen Ängste einer alt und nervös gewordenen Frau. Ich war so dumm! Ich hätte die anderen warnen, Jüngere um Hilfe bitten müssen. Aber ich hatte ihn schon einmal besiegt und ein ganzes Leben in Ruhe und Frieden hatten mich leichtsinnig und überheblich werden lassen. Ich bin an diesem Morgen zusammen mit dir zu Wohlgemut gefahren, um ihm von meinen Befürchtungen zu erzählen. Er ist einer der wenigen, die mir damals geholfen haben und heute noch am Leben sind.« Sie lachte bitter. »Ich dachte, er und ich wären gemeinsam stark und...«, sie betonte das Wort auf sonderbare Art, »weise genug, um dir alles erzählen und dich auf das vorbereiten zu können, was vielleicht käme. Ich Närrin!«