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»Aber du hast nichts gesagt«, wunderte sich Leonie. Ihr wurde zu spät klar, dass diese Worte durchaus als Vorwurf aufgefasst werden konnten, zumal ihre Großmutter sichtlich zusammenfuhr und die dünnen, knochig gewordenen Hände zu ringen begann.

»Wie konnte ich auch?«, murmelte ihre Großmutter. »Ich habe ihn nie erreicht.«

»Wen?«

»Wohlgemut«, antwortete Großmutter.

»Aber das kann nicht stimmen!«, protestierte Leonie. »Wir waren doch zusammen...« Sie brach ab, als ihre Großmutter den Blick hob und sie nun doch ansah. Was sie in ihren Augen las, das schnürte ihr die Kehle zu, und ein neuer, eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. »Wir sind doch zusammen in die Bibliothek gegangen«, murmelte sie. »Und du hast mich Wohlgemut vorgestellt.«

»Nein«, sagte Großmutter traurig. »Das habe ich nicht.« Sie hob die freie Hand, als Leonie etwas sagen wollte, und fuhr mit noch immer zitternder, nun aber wieder deutlich gefassterer Stimme fort: »Das war nicht ich, mit der du zusammen bei Wohlgemut warst, Leonie. Er lauerte mir auf, als ich Wohlgemuts Büro betrat.«

Im allerersten Moment verstand Leonie nicht, wovon ihre Großmutter überhaupt sprach, dann aber erinnerte sie sich an die kurze Szene, der sie bisher keinerlei Bedeutung zugemessen hatte. Ihre Großmutter war allein in das Zimmer hinter der großen Doppeltür getreten, nachdem die Sekretärin sie dazu aufgefordert hatte, und sie hatte tatsächlich sonderbare Laute daraus hervordringen hören, die sie damals nur verwirrt hatten. Jetzt, im Nachhinein und mit dem Wissen, das sie nun hatte, wurde ihr klar, dass es sehr wohl die Geräusche eines Kampfes gewesen sein konnten.

»Aber du bist doch herausgekommen und mit mir zu Wohlgemut gegangen«, murmelte sie hilflos. Natürlich glaubte sie ihrer Großmutter. Mehr noch: Sie wusste, dass es so und nicht anders gewesen war, aber die Vorstellung war einfach so entsetzlich, dass sie gar nicht anders konnte, als sich noch einmal, für einen allerletzten Moment, gegen die Erkenntnis zu sträuben.

»Ein Trugbild, das der Archivar geschickt hat«, erklärte ihre Großmutter. »Seine Kreaturen haben mich überwältigt und davongeschleppt. Ich habe versucht mich zu wehren, aber sie waren viel zu stark. Seitdem bin ich hier. Ich weiß nicht, was weiter geschehen ist. Ich habe versucht dich zu warnen, aber ich war nicht stark genug.«

»Das ist nicht wahr«, erwiderte Leonie mit leiser, tränenerstickter Stimme. »Ich habe dich gehört. Aber ich habe nicht verstanden, was du mir sagen wolltest.« Sie gab ein Geräusch von sich, von dem sie selbst nicht genau sagen konnte, ob es ein bitteres Lachen oder ein mühsam unterdrücktes Schluchzen war. »Vielleicht bin ich doch nicht so viel klüger als du.«

»Mach dir keine Vorwürfe, Leonie.« Ihre Großmutter hob die Hand und streichelte ihr sanft über die Wange. Ihre Haut fühlte sich heiß, trocken und auf schaudern machende Art krank an.

»Wenn jemanden die Schuld trifft, dann mich. Ich habe seine Tücke und Verschlagenheit unterschätzt und das ist ein unverzeihlicher Fehler.«

Leonie wollte etwas dazu sagen, doch dann schoss ihr plötzlich ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf: »Der Archivar hat behauptet, er wäre mir in deiner Gestalt erschienen, nur eben jünger - aber wie kann er Theresa gewesen sein, wenn er und Theresa im Archiv gleichzeitig auftauchten?«

Großmutter schüttelte traurig den Kopf: »Manchmal wird er dir wohl selbst als Theresa erschienen sein, manchmal aber auch nur eines seiner Geschöpfe geschickt haben.«

Leonie fuhr zur Tür herum; einen flüchtigen Moment lang hatte sie geglaubt, dort eine schwarze, schattenhafte Gestalt zu sehen, die hoch aufgerichtet im Gang stand und jede ihrer Regungen verfolgte. Aber sie musste sich getäuscht haben; dort war niemand. Und dennoch konnte sie sich des unheimlichen Gefühls nicht erwehren, von unsichtbaren Augen angestarrt zu werden, die unter einer schwarzen Kapuze verborgen waren.

»Hab keine Angst«, sagte ihre Großmutter hastig. Auch sie sah zur Tür hin, aber in ihren Augen waren nur Verbitterung und dumpfer Zorn zu lesen, nicht die mindeste Spur von Angst. »Er wird uns nichts tun. Jetzt noch nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil er seinen Triumph genießen will«, antwortete Großmutter. »Du darfst ihn nicht fürchten, Leonie. Ich weiß, das ist viel verlangt, aber du musst deine Furcht bekämpfen. Angst und Leid sind sein Lebenselixier. Er braucht es um zu existieren, so wie wir Luft, Sonnenlicht und Nahrung. In einer Welt ohne Furcht und ohne Leid könnte er nicht überleben.«

Es dauerte nur einen ganz kurzen Moment, bis Leonie der offensichtliche Fehler in diesen Worten auffiel. »Das ist verrückt. Ganz genau diese Welt wollte Vater doch erschaffen!«

Ihre Großmutter blinzelte - und Leonie begriff, dass sie gar nicht verstehen konnte, was sie ihr hatte sagen wollen. Mit wenigen Worten erzählte sie ihrer Großmutter, wie Vater das Buch in seine Gewalt gebracht und was er damit getan hatte. Großmutter hörte schweigend zu, und von all den Reaktionen, die Leonie erwartet hatte, erfolgte keine einzige. Sie wirkte weder erschrocken noch zornig oder gar entsetzt. Als Leonie ihren Bericht beendet hatte, schüttelte sie nur traurig den Kopf und seufzte.

»Ja, das hätte ich mir eigentlich denken können«, sagte sie, mit einem sonderbar milden Lächeln, das Leonie nun endgültig nicht mehr nachvollziehen konnte. »Dein Vater war schon immer ein unverbesserlicher Romantiker, aber leider nie sehr realistisch.«

Diese Beschreibung hatte wenig mit dem Mann gemein, den Leonie in den letzten Tagen erlebt hatte, sehr wohl aber eine Menge mit dem, an den sie sich aus einer längst vergangenen Zeit erinnerte. »Du bist gar nicht zornig auf ihn?«, erkundigte sie sich in leicht verwundertem Ton.

»Aber warum sollte ich?«, antwortete Großmutter. »Wenn ich, die ich mein Leben lang um die Macht des Archivars wusste und schon einmal mit ihm gekämpft habe, seiner Heimtücke nicht gewachsen war, wie könnte ich es dann von deinem Vater verlangen? Der Archivar ist kein Mensch, Leonie. Ich bin nicht einmal sicher, ob er ein lebendes Wesen in dem Sinn ist, in dem wir dieses Wort benutzen. Er ist so alt wie die Zeit, und er hat in all diesen Unendlichkeiten das Leid, den Schmerz, jeden hasserfüllten Gedanken, alle Bosheit und Heimtücke aufgesogen, die es auf dieser Welt gegeben hat. Wie kannst du erwarten, dass ein sterblicher Mensch seine Pläne durchschaut oder gar durchkreuzt?« Sie schüttelte abermals den Kopf und wiederholte: »Nein, ich bin deinem Vater nicht böse. Ganz im Gegenteil. Er ist vielleicht einer der gütigsten und sanftmütigsten Menschen, die ich jemals kennen gelernt habe, aber er ist ein Mensch. Niemand ist gegen die Verlockung gefeit, nicht einmal ein Heiliger wäre das. Wenn er wirklich geglaubt hat, es läge in seiner Hand, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen, dann musste er dieser Verlockung einfach erliegen.«

Leonie war verwirrt. Sie hatte erwartet, dass ihre Großmutter zornig oder zumindest enttäuscht reagieren würde, wenn sie erfuhr, was geschehen war - dass ausgerechnet sie Vaters Handeln nun auch noch verteidigte, das war das Letzte, womit sie gerechnet hätte. Ganz kurz wandte sie den Kopf und sah wieder zur Tür hin. Noch immer war dort niemand zu sehen, und doch glaubte sie eine finstere Macht zu spüren, die höhnisch jeden ihrer noch so kleinen Schritte verfolgte.