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»Erzähl mir, was geschehen ist«, bat Großmutter.

»Du weißt nichts?«

»Ich habe versucht dich zu warnen«, erwiderte Großmutter, »aber mehr konnte ich nicht tun. Ich bin hier, seit mich die Krieger des Archivars überwältigt haben.«

Leonie erschrak bis ins Mark. Obwohl es ihr viel länger vorkam, waren seit dem Morgen, an dem Großmutter und sie in die Zentralbibliothek gegangen waren, doch erst wenige Tage verstrichen. Für sie. Doch die Zeit gehorchte hier unten anderen Gesetzen. Wenige Tage oder Wochen in der richtigen Welt mussten Monate, wenn nicht Jahre im Reich des Archivars bedeuten. »Aber das heißt ja, dass du...« Ihre Stimme versagte, aber ihre Großmutter wusste auch so, was sie meinte. Sie nickte müde.

»Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier bin«, sagte sie. »Aber es war eine lange Zeit. Eine endlos lange Zeit. Ich glaube, das Einzige, was mir die Kraft gegeben hat, am Leben zu bleiben, war die Angst um dich und die Hoffnung, dich vielleicht doch noch warnen zu können.« Sie raffte sich zu einem aufmunternden Lächeln auf, als sie den Ausdruck von Schmerz auf Leonies Gesicht erkannte, und hob noch einmal die Hand, um ihre Wange zu berühren. »Also? Erzähl mir, was geschehen ist.«

Leonie war noch immer zutiefst erschüttert, aber schließlich kämpfte sie ihren Kummer nieder und begann mit leiser, sehr ruhiger Stimme von all den unheimlichen und erschreckenden Geschehnissen zu berichten, die sich seit jenem schicksalhaften Morgen zugetragen hatten. Sie brauchte lange dazu, aber ihre Großmutter unterbrach sie kein einziges Mal, auch wenn sich ihr Blick des Öfteren verdüsterte und mehr als einmal blankes Entsetzen oder auch Wut in ihren Augen aufleuchteten - vor allem, so schien es Leonie, jedes Mal dann, wenn sie von Wohlgemut, Dr. Fröhlich oder Vater Gutfried erzählte. Sie nahm sich vor, ihrer Großmutter eine entsprechende Frage zu stellen, hielt aber nicht in ihrem Bericht inne, sondern zwang sich ganz im Gegenteil sogar, sich an jede noch so winzige Kleinigkeit zu erinnern und nichts auszulassen. So war es auch nicht weiter verwunderlich, dass sie bestimmt eine Stunde brauchte, ehe sie endlich an dem Punkt angelangt war, an dem die Geschichte endete. Als sie von ihren Gefühlen zu berichten versuchte, die sie beim Anblick des Archivars empfunden hatte - vor allem in dem Moment, als er sich ihr offenbart hatte, begann ihre Stimme zu zittern und versagte ihr kurz darauf den Dienst.

»Oh, du armes Kind«, bedauerte sie Großmutter. »Was musst du nur gelitten haben!«

»Gelitten?« Leonie riss die Augen auf. »Nein. Längst nicht genug, wenn du mich fragst. So dumm, wie ich war, kann ich gar nicht genug leiden, um dafür bestraft zu werden. Die ganze Zeit über habe ich gedacht, ich kämpfe gegen den Archivar. Aber er war ständig in meiner Nähe.«

Ihre Großmutter antwortete nicht gleich, sondern sah sie nur auf sonderbare Weise an. Dann fragte sie: »Und jetzt machst du dir Vorwürfe, weil du auf seine Lügen hereingefallen bist?«

»Ich verstehe nicht, wie ich so dumm sein konnte«, bestätigte Leonie.

»Was ich gerade über deinen Vater gesagt habe, Leonie«, fragte Großmutter, »hast du das verstanden? Dass er nur ein Mensch ist und der Verschlagenheit und Heimtücke des Archivars nicht gewachsen?«

Leonie nickte.

»Du verstehst also deinen Vater«, fuhr Großmutter fort. »Aber warum verstehst du dann nicht dich selbst? Wieso gilt für dich nicht, was für ihn gilt?« Sie schüttelte heftig den Kopf, als Leonie antworten wollte. »Dich trifft am allerwenigsten Schuld, Leonie.« Sie seufzte. »Vielleicht trifft niemanden die Schuld. Dieser Kampf ist so alt wie die Zeit und vielleicht musste er einmal enden.«

Die Mutlosigkeit in der Stimme ihrer Großmutter erschütterte Leonie. Bevor sie etwas sagte, wandte sie noch einmal den Kopf und sah zur Tür. Die Tür stand immer noch offen und von draußen drang nicht der mindeste Laut herein, aber Leonie wusste dennoch, dass es vollkommen sinnlos wäre, fliehen zu wollen. Müde wandte sie sich wieder ihrer Großmutter zu und fragte: »Und was tun wir jetzt?«

»Tun?« Leonie verstand zwar nicht warum, aber ihre Großmutter klang ehrlich verwirrt.

»Wir müssen etwas unternehmen«, antwortete sie. »Wir müssen...«

»Was?«, unterbrach sie Großmutter. »Ihm das Buch wieder wegnehmen?«

»Sicher!« Leonie nickte heftig.

»Aber hast du denn nicht verstanden, was ich dir die ganze Zeit zu erklären versucht habe?«, fragte ihre Großmutter. »Es gibt nichts mehr, was wir tun könnten.«

»Aber wir können doch nicht einfach aufgeben!«, protestierte Leonie. »Wir müssen das Buch wieder in unseren Besitz bringen! Wenn dieses... dieses Ding Macht über das Schicksal jedes einzelnen Menschen hat...«

»... dann wird die Welt zu einem anderen Ort werden als dem, den wir kennen«, unterbrach sie ihre Großmutter leise, traurig und in einem Ton, der etwas in Leonie berührte und sie schier zu Eis erstarren ließ. »Einem dunklen Ort. Vielleicht ist es gut, dass wir ihn nicht mehr erleben werden.«

»Du willst einfach so aufgeben?« Leonie weigerte sich zu glauben, dass ihre Großmutter dieser Meinung sein könnte. »Du hast es doch selber gesagt! Du hast ihn schon einmal besiegt! Und jetzt sind wir zu zweit!«

»Und doch gibt es nichts, was wir noch tun könnten«, beharrte ihre Großmutter. »Es ist das oberste Gesetz des Archivs, dass die Macht über das Buch nur vererbt oder aus freien Stück weitergegeben werden kann. Selbst wenn es uns gelänge, ihm das Buch mit Gewalt wegzunehmen, würde das nichts ändern. Er müsste es dir schon freiwillig zurückgeben.«

»Heißt das, dass... dass...« Leonies Stimme versagte endgültig. Sie war nicht einmal überrascht, denn im Grunde hatte sie längst gewusst, was ihre Großmutter ihr nun gesagt hatte. Aber es war eine Sache, etwas zu wissen, und eine ganz andere, es auch zu akzeptieren. Und je schlimmer die Erkenntnis war, desto gewaltiger war dieser Unterschied.

»Ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes sagen, Leonie«, sagte Großmutter. Sie streckte die Hand aus und berührte tröstend Leonies Gesicht. »Ich wünschte so sehr, ich könnte es. Ich gäbe mein Leben dafür. Aber es ist so. Der Kampf ist entschieden, Leonie. Wir haben verloren. Endgültig.«

Meister Bernhards Entscheidung

»Was für eine herzergreifende Rede!«

Leonie fuhr so erschrocken herum, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und rasch die Hand ausstreckte, um sich an der Wand abzustützen, fast hätte sie überrascht aufgeschrien, als sie die schlanke Gestalt erkannte, die unter der Tür erschienen war. Von allen Menschen auf der Welt hätte sie den nicht sehr großen dunkelhaarigen Mann mit der Lockenfrisur und dem kurz geschnittenen, aber stets ein wenig ungepflegt wirkenden Vollbart am wenigsten hier erwartet. Sie konnte sein Gesicht vor dem hell erleuchteten Hintergrund des Korridors nicht richtig erkennen, aber dennoch registrierte sie das böse, triumphierende Glitzern in seinen Augen.

»Ich habe dir doch versprochen, dass wir uns wiedersehen, du kleine Kröte«, sagte Meister Bernhard.

»Sie?«, murmelte Leonie überrascht.

»Wer ist das?«, fragte Großmutter.

»Niemand«, antwortete Leonie. Etwas leiser und mit einem zornigen Blick in Bernhards Gesicht fügte sie hinzu: »Jedenfalls niemand, den du kennen lernen möchtest.«

Bernhards hämisches Grinsen wurde noch breiter. »In diesem Punkt sind wir wohl ausnahmsweise einmal einer Meinung, edles Fräulein«, meinte er spöttisch. »Möchtest du mich der Dame des Hauses nicht vorstellen?«