»Das ist unglaublich«, sagte Vater kopfschüttelnd. »Ein Notar, der seine Klienten zur Urkundenfälschung auffordert!«
»Vielleicht hat er ja wirklich einen guten Grund dafür.« Mutter wirkte sehr ernst und sehr nachdenklich. »Was er über die Familientradition gesagt hat, ist wahr. Mutter wollte unbedingt, dass Leonie das Geschäft erbt und niemand sonst.«
»Dagegen hat ja auch niemand etwas«, sagte Vater. »Aber welchen Unterschied machen da schon ein paar Tage?« Er nahm den Briefumschlag, den Fröhlich dagelassen hatte, vom Tisch und ließ ihn in seiner Tasche verschwinden. »Das lese ich mir später durch, und zwar sehr aufmerksam.« Nachdenklich wandte er sich an Leonie. »Bei dem Streit, von dem du erzählt hast - worum ging es da?«
Leonie hob die Schultern. »Ich weiß es nicht genau«, sagte sie wahrheitsgemäß. »Fröhlich war mit irgendeiner Entscheidung, die Großmutter getroffen hatte, nicht einverstanden, das ist alles, was ich mitbekommen habe.«
»Wahrscheinlich mit dem da.« Vater schlug mit der flachen Hand auf die Jackentasche, in der der Briefumschlag steckte. Er schien einen Moment intensiv nachzudenken und seufzte dann. »Ich gehe mal ins Internet und versuche etwas über diesen Dr. Fröhlich herauszufinden.«
»Jetzt?«, fragte Mutter verständnislos.
»Ich kann sowieso nicht schlafen«, antwortete Vater. »Und es könnte immerhin wichtig sein.«
Er ging. Mutter sah ihm fast entsetzt nach, aber Leonie konnte ihren Vater sogar verstehen. Großmutters Tod ging ihm offenbar genauso nahe wie ihr und ihrer Mutter, doch er gehörte nicht zu den Menschen, die ihre Gefühle offen zeigen konnten. Es war eben seine Art, mit dem Schmerz fertig zu werden.
Leonie nahm auf der Couch Platz und sah wieder zum Fernseher hinüber. Sie zeigten immer noch Bilder von der Absturzstelle, diesmal Luftaufnahmen, die wahrscheinlich von einem Hubschrauber stammten, der allen Verboten zum Trotz über der Landebahn kreiste.
»Wissen sie schon, was passiert ist?«, fragte Leonie.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. Sie blickte ebenfalls auf den Fernseher und sie hatte die Arme um den Leib geschlungen, als wäre ihr kalt, nahm aber nicht Platz. Sie sah unendlich verloren aus. »Nein. Ich glaube sie suchen noch nach dem Flugschreiber oder so etwas. Vorher kann man nichts Bestimmtes sagen. Ich weiß auch gar nicht, ob ich es wirklich wissen will. Großmutter ist tot. Und es macht sie nicht wieder lebendig, wenn wir wissen warum.«
»Du glaubst doch nicht wirklich, dass da irgendetwas...«, begann Leonie, hatte aber plötzlich nicht mehr den Mut, den Satz zu Ende zu führen.
»Natürlich nicht«, beteuerte Mutter. »Es war ein Unfall. Ein schrecklicher Unfall, nicht mehr, aber auch nicht weniger.« Sie nahm die Arme herunter und drehte sich ganz zu Leonie herum. »Was du gerade erzählt hast, das mit dem Streit zwischen Fröhlich und Großmutter - ist das wahr?«
»Ich weiß nicht genau, ob es wirklich ein Streit war«, antwortete Leonie nach kurzem Überlegen. »Er war sehr aufgeregt wegen irgendetwas, das sie getan hatte, aber ich weiß nicht was. Waren sie wirklich so alte Freunde, wie er behauptet?«
»Fröhlich?« Mutter deutete ein Achselzucken an. »Ich weiß es nicht. Ich habe ihn heute Morgen zum ersten Mal gesehen, genau wie du.«
Das kam Leonie einigermaßen merkwürdig vor, falls Fröhlich und Großmutter tatsächlich so gute alte Freunde gewesen waren, wie der Notar behauptete. »Ist das nicht seltsam?«, fragte sie.
»Ja«, bestätigte ihre Mutter traurig. »Es ist wirklich seltsam. Da verbringt man fast jeden Tag seines gesamten Lebens mit einem Menschen, und erst wenn er nicht mehr da ist, wird einem klar, wie wenig man eigentlich von ihm gewusst hat. Und dann ist es zu spät, um noch Fragen zu stellen.«
Nächtlicher Besuch
Sie hatte erwartet, dass an Schlafen diese Nacht nicht einmal zu denken wäre, aber das Gegenteil war der Falclass="underline" Leonie und ihre Mutter saßen noch eine halbe Stunde in bedrücktem Schweigen beieinander, doch dann wurde sie plötzlich so müde, dass sie es kaum noch nach oben und bis in ihr Zimmer schaffte, wo sie sofort in einen tiefen und diesmal traumlosen Schlaf sank.
Als sie erwachte, herrschte draußen noch immer tiefste Dunkelheit, was bedeutete, dass es noch vor fünf war, die Zeit, zu der die Sonne jetzt im Hochsommer aufging. Leonie fand das sonderbar, zumal sie erst lange nach Mitternacht ins Bett gegangen war und sich noch lebhaft an die bleierne Müdigkeit erinnerte, die sich auf sie herabgesenkt hatte.
Erst dann wurde ihr klar, dass sie nicht von selbst aufgewacht war. Ein Geräusch hatte sie geweckt und es war immer noch da.
Leonie setzte sich behutsam im Bett auf und horchte. Da war es wieder: Ein fast unhörbares leises Klicken und Schaben - wie das Geräusch winziger harter Krallen, die über den Linoleumfußboden ihres Zimmers trippelten. In ihrem schlaftrunkenen Zustand vergingen noch etliche Sekunden, bis ihr klar wurde, dass es tatsächlich ein Trippeln war. Eine Maus. In ihrem Zimmer befand sich eine Maus!
Leonie setzte sich weiter auf, streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus und zog sie dann wieder zurück. Wenn sie das Licht einschaltete, würde der unerwünschte Eindringling zweifellos ins nächstbeste Versteck flüchten und sie hätte keine Chance mehr, ihn anzufangen. Leonie hatte nicht vor, dem kleinen Wesen ein Haar zu krümmen, sehr wohl aber, es nachdrücklich aus dem Haus zu entfernen. Wo eine Maus war, waren andere meist nicht fern, und Mäuse in einer Buchhandlung waren so ungefähr das Schlimmste, was man sich vorstellen konnte.
So leise sie konnte, schwang sie die Beine aus dem Bett, ging daneben in die Hocke und versuchte, die fast vollkommene Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen. Im ersten Moment sah sie nichts, aber dann hörte sie das Trippeln wieder, und als sie den Kopf drehte, sah sie einen Schatten unter dem Bett verschwinden. Hastig ließ sie sich auf Hände und Knie herabsinken - und riss erstaunt die Augen auf.
Die Maus saß nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt unter dem Bett und blickte ohne die geringste Scheu aus ihren winzig kleinen Knopfaugen zu ihr hoch. Ihre Barthaare zitterten, als sie sich auf die Hinterläufe aufrichtete und in ihre Richtung schnupperte.
»Du bist ganz schön dreist.« Leonie kam sich selbst ein bisschen albern dabei vor, im Dunkeln neben ihrem Bett auf dem Boden zu hocken und mit einer Maus zu reden, doch nach einem Moment fuhr sie dennoch fort: »Aber auch ganz schön hübsch. Wenn es nicht vollkommen unmöglich wäre, dann würde ich sagen, dass wir uns schon einmal begegnet sind.«
Die Maus wackelte zustimmend mit den Ohren und ließ sich wieder auf alle vier Pfoten sinken. Ansonsten rührte sie sich nicht von der Stelle.
»Wenn du so weitermachst, sehe ich schwarz für deine Lebenserwartung«, sagte Leonie. »Du kannst nicht hier bleiben, weißt du? Also, wie ist es - gehst du freiwillig oder muss ich nachhelfen?«
Die Maus trippelte zwei Schritte davon, blieb stehen und drehte den Kopf, um zu ihr zurückzusehen.
»Hör mit dem Unsinn auf«, drohte Leonie. »Wenn mein Vater dich erwischt, wird es ungemütlich. Was solche wie dich angeht, versteht er keinen Spaß.«
Die Maus machte zwei weitere Schritte, blieb wieder stehen und sah erneut zu ihr zurück. Ihre Ohren zuckten. Es sah aus, als versuche sie, Leonie damit zuzuwinken.
»Ich meine es ernst. Verschwinde, solange du es noch kannst!«
Die Maus verschwand nicht. Sie machte ganz im Gegenteil kehrt, trippelte zu Leonie zurück und richtete sich keine zehn Zentimeter von ihr entfernt wieder auf die Hinterbeine auf. Leonie streckte die Hand aus, um sie zu verscheuchen, und sie war nicht einmal sehr überrascht, als der winzige Nager ohne zu zögern auf ihre ausgestreckte Handfläche sprang.
Diesmal wartete sie nicht, bis die Maus an ihrem Arm hinaufkletterte, um auf ihre Schulter zu hüpfen und von dort aus ihr Gesicht zu beschnüffeln. Blitzschnell griff sie auch mit der anderen Hand zu und bildete mit den Fingern einen kleinen Käfig, in dem die Maus rettungslos gefangen war. Sie piepste protestierend, versuchte aber nicht, aus ihrem Gefängnis auszubrechen, sondern sah Leonie nur vorwurfsvoll an.