Leonie verscheuchte den Gedanken. Mit Sicherheit bewegten Meister Bernhard ganz genau die Gründe, die er gerade selbst genannt hatte. Sie war wohl verzweifelt genug, sich an Hoffnungen zu klammern, die es gar nicht gab.
Was sie vorhin schon gespürt hatte, wurde zur Gewissheit, während sie den riesigen Schreibsaal durchquerten. Er hatte sich verändert. Von einem unheimlichen und fremden Ort war er zu einer Welt geworden, in der die Angst herrschte. Keiner der Scriptoren, an denen sie vorüberkamen, wagte es auch nur, von seiner Arbeit aufzusehen oder ihnen einen verstohlenen Blick zuzuwerfen, und aus jeder ihrer schnellen, hektischen Bewegungen sprach nackte Furcht. Selbst die riesigen Aufseher, die da und dort zwischen den Pultreihen patrouillierten und mit Argusaugen darüber wachten, dass jeder seine Arbeit tat, wirkten auf ihre Weise verängstigt, obwohl Leonie sie doch als Geschöpfe kennen gelernt hatte, die selbst Angst und Schrecken verbreiteten. Sie musste an das denken, was ihre Großmutter vorhin zu ihr gesagt hatte. Wenn die Welt, zu der der Archivar die Wirklichkeit machen würde, so war wie dieser gespenstische Saal, dann war es vielleicht tatsächlich besser, wenn sie sie nie kennen lernten.
Nach einer kleinen Ewigkeit erreichten sie die Mitte des riesigen Saals und damit den düsteren Steinturm, in dem Leonie damals den Scriptor gefangen genommen hatte, aber diesmal machten sie dort nicht Halt, sondern setzten ihren Weg in unveränderter Geschwindigkeit fort. Leonie war bereits müde. Ihr Rücken begann zu schmerzen und sie hatte nicht nur das Gefühl, dass sie jeder weitere Schritt ein kleines bisschen mehr Anstrengung kostete als der vorherige, sondern auch dass sich das jenseitige Ende der Halle fast im gleichen Tempo von ihnen entfernte, in dem sie sich darauf zubewegten.
Und sie war nicht die Einzige, der es so erging. Auch wenn Meister Bernhard sich alle Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen, so entging Leonie doch keineswegs, dass seine Schritte eine Menge von ihrem anfänglichen Elan verloren hatten und es ihm nun deutlich immer schwerer fiel, Großmutter zu tragen. Ein- oder zweimal geriet er ins Stolpern und fand nur allmählich in seinen gewohnten Rhythmus zurück, und auf dem letzten Stück des Weges war sie beinahe sicher, dass er es nicht mehr schaffen würde. Als sie endlich am Fuß der Treppe ankamen, über der sich das gewaltige Eisentor erhob, wankte er merklich, und seine Kräfte versagten endgültig, noch bevor sie die Hälfte der Stufen hinter sich gebracht hatten. Mit einem erschöpften Seufzen stellte er ihre Großmutter auf die Füße, machte noch einen halben, wankenden Schritt und sank dann zitternd vor Schwäche und Erschöpfung auf die schwarzen Steinfliesen. »Nur einen Moment«, murmelte er. »Es geht... gleich weiter.« Leonie war über ihre eigene Reaktion einigermaßen erstaunt; ob Bernhard erschöpft war oder nicht, hätte ihr herzlich egal sein oder sie sogar mit Schadenfreude erfüllen sollen, aber sie empfand ganz im Gegenteil Mitleid. So wie sie Meister Bernhard und seine Truppe kennen gelernt hatte, hätte sie alles von ihm erwartet - nur nicht die fast rührende Art, auf die er sich um ihre Großmutter gekümmert hatte, auch wenn er sich alle Mühe gab, dies zu überspielen. Sie kam jedoch nicht dazu, eine entsprechende Bemerkung zu machen, denn Bernhard hatte sich kaum auf die Stufen sinken lassen und das Gesicht in den Händen verborgen, da ertönte ein dumpfes, lang nachhallendes Dröhnen und einer der beiden gewaltigen eisernen Torflügel bewegte sich scharrend nach innen. Leonie und ihre Großmutter sahen alarmiert hoch und auch Bernhard hob müde den Kopf und warf einen Blick über die Schulter zurück.
Das Tor schwang weiter auf und gab den Blick auf den dahinter liegenden, düsteren Gang frei, in dem sich verschwommene, auf unheimliche Weise missgestaltete Schemen bewegten, dann erschien wie aus dem Nichts eine schlanke Frauengestalt unter der Öffnung mit langem glattem Haar, das ihr bis weit über die Schultern fiel. Im allerersten Moment war Leonie einfach nur verwirrt, aber dann begriff sie, dass sie niemand anderem als dem Archivar gegenüberstanden, der wieder die Gestalt Theresas angenommen hatte. Trotz dieses Wissens fühlte sie ein Aufwallen von fast grenzenloser Erleichterung über diese erneute Verwandlung und - noch absurder - beinahe so etwas wie Sympathie. Auch wenn ihr Anblick Leonie einen tiefen, schmerzhaften Stich versetzte, war Theresa doch für lange Zeit der einzige Mensch gewesen, den sie für ihren Freund gehalten hatte, und obwohl dies vielleicht die grausamste aller Lügen gewesen war, konnte sie sich noch immer nicht von dieser Vorstellung lösen.
Vielleicht war sie jedoch die Einzige, die die Gestalt am Ende der Treppe so sah. Ihre Großmutter sog scharf die Luft ein und der Ausdruck auf dem Gesicht Meister Bernhards war nur mit purem Entsetzen zu beschreiben. Er sprang auf die Füße, nahm die Hände herunter und alles Blut wich aus seinem Gesicht.
»Verzeiht, Herr«, stammelte er. »Ich...«
Theresa - der Archivar - schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab. »Schon gut!«, sagte sie, ohne den Blick auch nur einen Sekundenbruchteil von Leonies Gesicht zu nehmen. »Da ist jemand, der auf dich wartet.«
Leonie schluckte die Antwort hinunter, die ihr auf der Zunge lag. Sie hatte nicht vergessen, was ihre Großmutter vorhin in der Zelle gesagt hatte. Es gab nichts mehr, was sie noch tun konnten, und nichts, was sie noch hätte sagen können. Ganz gleich, was es gewesen wäre, es hätte den Triumph des Archivars nur noch vergrößert.
Als sie ohne ein Wort weiterging, blitzte es für einen Moment in Theresas Augen auf; ein kurzes Funkeln, das Leonie im ersten Moment für Zorn hielt, bis ihr klar wurde, dass selbst ihr trotziges Schweigen das unheimliche Geschöpf nur amüsierte. Vielleicht war das überhaupt das Allerschlimmste.
Bernhard drehte sich müde um und streckte die Hand nach Großmutter aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, als ihn ein eisiger Blick aus den Augen der alten Frau traf. Mühsam, aber mit stolz erhobenem Kopf bewegte sich Großmutter die Treppe hinauf und auf den Archivar zu. Das unheimliche Wesen, das ihr in der Gestalt einer jungen Frau entgegenblickte, schien ebenso wie Leonie und sicherlich auch Meister Bernhard darauf zu warten, dass sie stehen blieb, aber sie setzte ihren Weg ohne zu zögern fort, und etwas ganz und gar Unglaubliches geschah: Es war am Ende der Archivar, der zur Seite wich.
Hintereinander durchschritten sie das gewaltige eiserne Tor. Leonie konnte sich nicht mehr ganz genau daran erinnern, wie es hier ausgesehen hatte, als sie diesen Weg das erste Mal genommen hatte, aber der Gang kam ihr auf die gleiche, schaudern machende Art verändert vor wie das Scriptorium: Alles wirkte düsterer, unförmiger, als hätte es sich ein kleines Stück weiter in Richtung jener Welt verschoben, in der die Albträume und die Angst zu Hause waren.
Erst nachdem sie schon eine ganze Strecke zurückgelegt hatten, fiel Leonie auf, dass die beiden Scriptoren ihnen nicht mehr folgten. Auch sonst begegnete ihnen keiner der unheimlichen Bewohner dieses unterirdischen Reiches, während sie durch den langen, von schweren eisernen Türen gesäumten Gang schritten.
Das Unglück geschah, als sie ihr Ziel fast erreicht hatten und der grün leuchtende Nebel vor ihnen wieder heller zu werden begann. Großmutters Schritte waren immer langsamer und schleppender geworden, sodass Meister Bernhard noch zweimal den Arm nach ihr ausgestreckt hatte um ihr zu helfen, was sie aber jedes Mal mit dem gleichen trotzigen Kopfschütteln abgelehnt hatte. Plötzlich aber strauchelte sie, streckte mit einem erschrockenen Seufzen den Arm nach der Wand aus um sich abzustützen und wäre dennoch gestürzt, wären nicht Bernhard und Leonie gleichzeitig vorgesprungen um sie aufzufangen.