»Nur... einen kleinen Moment«, bat der schwarzhaarige Gaukler. »Ich bin... gleich wieder bei Kräften.«
Zu Leonies Erstaunen erhob der Archivar keinerlei Einwände, sondern stand nur in einiger Entfernung da und starrte reglos zu ihnen zurück. Sicher hatte sein Schweigen nichts mit Verständnis für Meister Bernhards Schwäche zu tun oder gar Mitleid, sondern hatte gänzlich andere, finsterere Gründe, aber das war Leonie vollkommen gleich.
»Die Zelle«, flüsterte Bernhard. »Gleich die zweite Tür auf der linken Seite.«
Um ein Haar hätte Leonie sich verraten, denn sie verstand zunächst gar nicht, wovon er sprach. Buchstäblich im allerletzten Moment, bevor sie eine entsprechende Frage stellen und möglicherweise alles verderben konnte, fing sie einen warnenden Blick ihrer Großmutter auf; und alles, was sie in diesem Moment hoffen konnte, war, dass der Archivar nicht ständig ihre Gedanken las. Statt irgendetwas zu sagen, deutete sie nur ein Schulterzucken an und tat so, als werfe sie einen langen, aufmerksamen Blick in die Halle.
Was sie beinahe sofort wieder bedauerte. Von der Galerie aus betrachtet hatte der Leimtopf einen entsetzlichen Anblick geboten, doch von hier unten wirkte die ganze Szene noch ungleich schrecklicher. Sie standen buchstäblich an der Pforte zur Hölle. Kaum einen Meter vor ihren Füßen brodelte der grüne Leim. Da waren Hunderte und Aberhunderte riesiger gepanzerter Gestalten, das Klirren von Metall und das Rasseln von Ketten, Peitschenknallen und Schreie, und über alldem das wie das Tosen einer düsteren Meeresbrandung an- und abschwellende Stöhnen der Gefangenen, die noch immer in einer schier endlosen Schlange auf die Richtstätte zugetrieben wurden.
»Sieh nicht hin«, flüsterte ihre Großmutter. »Das ist es, was er will! Deine Angst macht ihn stärker! Schau nicht hin! Sie leben nicht wirklich!«
Aber wie konnte sie das? Vielleicht hatte ihre Großmutter ja Recht, und all diese zahllosen Männer dort vorne waren nichts als dienstbare Geister, die ihr Vater durch die Macht des Buches erschaffen hatte. Und dennoch: Wie konnte sie dieser Gedanke trösten, nach dem, was sie gerade in Bernhards Augen gelesen hatte?
»Hast du uns deshalb hierher gebracht?«, fragte sie mit einer trotzigen Kopfbewegung auf den Leimtopf. »Um uns zu zeigen, was uns erwartet?« Sie versuchte herausfordernd zu lachen, aber sie spürte selbst, wie kläglich es misslang. Selbst in ihren eigenen Ohren klang der Laut fast wie ein Schluchzen. Dennoch fuhr sie fort: »Ich habe keine Angst vor dem Tod. Bring mich doch um, wenn es dir Spaß macht!«
Dich töten? Die lautlose Stimme des Archivars klang ehrlich erstaunt. Warum sollte ich das tun?
Offensichtlich war sie nicht die Einzige, die die lautlose Stimme des Archivars gehört hatte. Ihre Großmutter schüttelte traurig den Kopf und sah sie mit einem Ausdruck von Schmerz in den Augen an, der Leonie schier das Herz brach, obwohl sie ihn nicht verstand. »Er wird uns nicht töten, Leonida«, sagte sie. »So weit reicht seine Macht nicht.« Müde hob sie den Arm und deutete mit einer schmalen, vor Schwäche zitternden Hand tiefer in die Halle hinein. »Er wird uns etwas viel Schlimmeres antun.«
Leonies Blick folgte der Geste. Im ersten Moment verstand sie nicht, was ihre Großmutter ihr zeigen wollte - aber dann stockte ihr buchstäblich der Atem, als ihr Blick an einer der riesigen, in stachelbewehrtes, schwarzes Eisen gehüllten Gestalten hängen blieb.
Es war kein Aufseher.
Die Gestalt stand ein wenig abseits von den anderen, zwar in der Kette der Aufseher, die ihre Gefangenen weiter antrieben, und wie sie mit einer großen, mehrschwänzigen Peitsche bewaffnet, aber ohne sich an der erbarmungslosen Treibjagd zu beteiligen. Und auch das Gesicht unter dem schwarzen eisernen Helm war nicht das eines Aufsehers.
Es war das Gesicht ihres Vaters.
»Nein«, hauchte Leonie. »Das... das kann nicht sein!«
Nicht mehr lange, flüsterte die lautlose Stimme des Archivars hinter ihrer Stirn. Noch wehrt er sich, doch schon bald wird er einer meiner treuesten Diener sein. Das unheimliche Geschöpf drehte sich ganz zu ihr um, und obwohl sein Gesicht unter der schwarzen Kapuze nach wie vor unsichtbar blieb, spürte sie den Blick seiner schrecklichen Augen wie die Berührung einer unsichtbaren, glühenden Hand. Und du.
»Nein!« Leonie schrie fast. »Niemals!«
Der Archivar machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Und wozu auch? Leonie wusste, dass er Recht hatte. Sie würde sich wehren. Sie würde kämpfen, mit all ihrer Kraft und jedem bisschen Mut, das in ihr war. Doch wie sollte sie gegen einen Feind bestehen, der alle Zeit des Universums hatte und weder Erbarmen noch Schwäche kannte? Irgendwann würde auch sie der Versuchung erliegen, vielleicht nach einem Jahr, vielleicht nach zehn oder auch hundert Jahren, aber irgendwann würde sie zerbrechen.
Die lautlose Stimme des Archivars in ihrem Kopf sprach aus, was sie selbst sich nicht zu denken gestattete: Warum kämpfen, wenn es nichts zu gewinnen gibt?
»Ja«, flüsterte Meister Bernhard. »Nicht in der Welt, die du erschaffen wirst, du Ungeheuer.« Und plötzlich schrie er: »Lauft!«
Mit einem gellenden Schrei stürzte er vor und warf sich mit weit ausgebreiteten Armen auf den Archivar.
Leonie war noch immer viel zu erschüttert, um auch nur zu begreifen, was Bernhard meinte, und womöglich hätte sie diese unwiderruflich allerletzte Chance verstreichen lassen, wäre ihre Großmutter nicht gewesen. Noch während Bernhard mit weit ausgebreiteten Armen auf den Archivar zusprang, fuhr sie herum, war mit einem Satz bei Leonie und riss sie so grob mit sich, dass sie um ein Haar gestürzt wäre. Nur mit Mühe fand sie ihre Balance zurück, und es kostete sie sogar noch mehr Mühe, mit ihrer Großmutter Schritt zu halten, die ein geradezu unglaubliches Tempo entwickelte. Sie stolperte förmlich hinter ihrer Großmutter her, als diese auf einen der zahllosen Tunnel zustürmte, die in den Leimtopf hineinführten. Das Letzte, was sie sah, war Meister Bernhard, der gegen den Archivar prallte und ihn mit sich von den Füßen riss. Eng aneinander geklammert stürzten die beiden nach hinten und fielen in den kochenden Leim, der hoch aufspritzte und sich mit einem saugenden Geräusch über ihnen schloss. Dann rasten sie in den gemauerten Tunnel hinein und ihre Großmutter machte noch zwei stolpernde Schritte und sank dann zitternd vor Erschöpfung gegen die Wand.
»Wohin?«, keuchte sie. »Was hat er gesagt? Leonie!«
Was hatte wer gesagt? Leonies Gedanken überschlugen sich dermaßen, dass ihr schwindelte. Der Gang schien sich um sie zu drehen. Sie verstand weder, wovon ihre Großmutter überhaupt sprach, noch warum Bernhard das getan hatte. Diese Flucht war vollkommen sinnlos. Der Einzige, der bei Meister Bernhards selbstmörderischer Aktion den sicheren Tod fand, war er selbst, ganz gewiss nicht der Archivar, der hinterher nur umso zorniger reagieren würde. Und die Verfolger waren zweifellos bereits auf dem Weg. Leonie konnte ihr wütendes Gebrüll und das schwere Stampfen ihrer Schritte bereits hinter sich hören. Und selbst wenn sie ihnen entkommen könnten - wohin sollten sie schon fliehen?
»Leonie!«
Was hatte Meister Bernhard gesagt? Die zweite Tür auf der linken Seite? Leonies Blick irrte verzweifelt über die niedrigen Eisentüren mit den vergitterten Gucklöchern, die den Gang zu beiden Seiten säumten. Der Tunnel ähnelte jenem, in den sie damals zusammen mit ihren Eltern geflohen war, aber gerade das gab ihrer Verzweiflung nur noch neue Nahrung, denn sie wusste ja, dass sich dahinter nichts als winzige Kerkerzellen befanden, ganz ähnlich der, in der ihre Eltern und sie sich damals...
Leonie verschenkte noch eine weitere kostbare Sekunde, in der sie einfach dastand und sich unbeschreiblich blöd vorkam. Wie hatte sie das nur vergessen können?! Mit einem einzigen Satz war sie an der alles entscheidenden Tür und riss sie auf. »Komm!«, keuchte sie. »Schnell!«