Ihre Großmutter versuchte es sogar, aber ihre Kräfte reichten nicht mehr. Die kurze Flucht hierher in den Gang musste sie restlos erschöpft haben. Sie machte einen taumelnden Schritt, stolperte und wäre gestürzt, hätte Leonie sie nicht in letzten Moment aufgefangen.
»Großmutter!«, rief Leonie entsetzt. »Was ist mit dir?«
»Nichts«, antwortete Großmutter matt. Schon der Klang ihrer Stimme strafte das Wort Lügen. Ihr Gesicht war grau vor Schwäche und sie zitterte am ganzen Leib. Trotzdem schüttelte sie den Kopf, als Leonie etwas sagen wollte, und machte sogar Anstalten, ihre Hände wegzuschieben, um sich aus ihrer Umarmung zu befreien.
»Geh«, murmelte sie. »Ich halte dich nur auf. Bring dich in Sicherheit!«
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte Leonie grimmig. Sie schüttelte den Kopf, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Du kommst mit!«
»Ich wäre dir nur ein Klotz am Bein«, beharrte ihre Großmutter. Abermals versuchte sie sich aus Leonies Griff zu lösen. »Lass mich hier. Vielleicht kann ich ihn... irgendwie aufhalten.«
»Wenn ich das täte, dann wäre ich nicht besser als der Archivar«, antwortete Leonie ernst. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Also, was ist? Wollen wir uns streiten, bis sie hier sind, oder bist du vernünftig?«
Für die Dauer eines Herzschlages sah ihre Großmutter sie nur fast verzweifelt an, aber dann erschien ein Ausdruck von übertrieben gespielter Empörung auf ihren Zügen. »Junge Dame«, sagte sie streng. »Eine solche Frage - noch dazu in diesem Ton - sollte ich dir stellen, nicht du mir!«
Leonie grinste. »Das tut mir ausgesprochen Leid, verehrte Frau Großmama«, erwiderte sie. »Ich gelobe, später entsprechend Buße zu tun. Vielleicht streue ich mir ein bisschen Asche aufs Haupt oder so was.« Sie stand auf. »Aber jetzt schlage ich vor, dass wir von hier verschwinden.«
Im Mauseloch
Die schwere Tür fiel mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss. Leonie tastete einen Moment lang wie wild in der fast vollständigen Dunkelheit nach dem Riegel, bevor sie sich klar machte, dass sie sich ja in einer Kerkerzelle befanden, an deren Innenseite es ganz bestimmt keinen Öffnungsmechanismus gab. Sie konnte nur hoffen, dass draußen jemand auf die Idee kam, die Tür zu öffnen und einen neugierigen Blick in den Raum dahinter zu werfen.
Nicht dass er irgendetwas gesehen hätte. Zumindest ging es Leonie so. Es war zwar nicht vollkommen dunkel hier drinnen, aber doch nahezu. Durch das vergitterte Guckloch, das sich in Augenhöhe in der schweren Eisentür befand, fiel ein schwacher Schimmer blassgrünen Lichts herein, der sie lediglich Umrisse erahnen ließ. Selbst ihre Großmutter, die einen Schritt neben ihr stand, war kaum mehr als ein blasser Schemen, den sie vielleicht nur deshalb sah, weil sie wusste, dass er da war. Dafür hörte sie ihre schweren, mühsamen Atemzüge umso deutlicher. Für einen Moment konnte Leonie nicht sagen, welches Gefühl stärker in ihr war: Ihre Bewunderung für die Kraft, die die alte Frau trotz des Martyriums, das hinter ihr lag, immer noch aufbrachte, oder die Sorge um sie.
Auf der anderen Seite der Tür erscholl ein dumpfes Poltern und dann das Stampfen zahlreicher Schritte, die rasch auf sie zuhielten. Leonie bedeutete ihrer Großmutter mit einem hastigen Wink, möglichst still zu sein, und spähte mit klopfendem Herzen durch das Guckloch nach draußen. Schatten huschten durch den Gang, die Schritte waren jetzt so laut wie Kanonenschläge, und dann rannte mehr als ein Dutzend Aufseher und Redigatoren brüllend und Waffen schwingend an der Tür vorbei, und dazu eine mindestens doppelt so große Anzahl von Scriptoren und Schusterjungen. Leonies Herz machte einen erschrockenen Sprung, als eine der kaum handgroßen Kreaturen für einen Moment im Laufen innehielt und sie fast sicher war, dass sie kehrtmachen und sich der Tür zuwenden würde. Dann aber setzte der hässliche Zwerg seinen Weg fort, und nur einen Moment später war die wilde Horde verschwunden und Leonie trat mit einem erleichterten Aufatmen von der Tür zurück. Sie waren keineswegs in Sicherheit, doch vielleicht hatten sie zumindest eine kleine Atempause gewonnen.
»Sind sie fort?«, fragte Großmutter.
Leonie wollte antworten, doch genau in diesem Moment erscholl in der Zelle hinter ihnen ein leises Klirren und etwas wie schweres Atmen und so fuhr sie stattdessen erschrocken herum und versuchte die fast vollkommene Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen.
Im ersten Moment erkannte sie fast noch weniger. Dann aber gewahrte sie eine verschwommene Gestalt, die zusammengekauert in der hintersten Ecke der Zelle hockte, und glaubte ein leises, unterdrücktes Stöhnen zu hören.
»Wer ist da?«, fragte sie.
Sie rechnete nicht ernsthaft mit einer Antwort, bekam sie aber doch zumindest indirekt: Das Klirren wiederholte sich und auch das Stöhnen war nun deutlicher zu vernehmen und klang beinahe so, als versuche jemand Worte zu formen, ohne dass es ihm wirklich gelang.
»Wer ist da?«, fragte sie abermals. Ihr Herz klopfte. Obwohl sie schreckliche Angst hatte, machte sie einen vorsichtigen Schritt auf den Schatten zu, und dann noch einen und schließlich einen dritten, bis sie erneut stehen blieb und ungläubig die Augen aufriss.
Aus dem Schemen war mittlerweile ein Körper geworden, der in zusammengekauerter Haltung und mit ausgebreiteten Armen an die Wand gekettet dasaß. Er war kaum größer als ein Kind und trug einen zerschlissenen, schwarzen Kapuzenmantel, der nicht nur wie das typische Kleidungsstück der Scriptoren aussah, sondern ganz zweifellos auch von einem solchen stammte. Das Gesicht darunter gehörte jedoch keinem hässlichen, hakennasigen Zwerg, sondern einem vielleicht neun- oder zehnjährigen, sehr blassen Jungen mit eingefallenen Wangen, dunklem Haar und einer verschorften Schramme auf dem Nasenrücken. Es war...
»Maus!«, schrie Leonie und war mit einem Satz neben dem Gauklerjungen.
Der Junge hob mühsam die Lider. Im allerersten Moment blieben seine Augen leer. Dann aber flackerte es darin auf, und nur den Bruchteil einer Sekunde später füllten sie sich mit einer wilden Hoffnung, die Leonie wie ein Stich in die Brust traf, denn sie wusste, dass sie sie nicht erfüllen konnte. »Edles Fräulein?«, murmelte Maus benommen.
»Leonie«, verbesserte sie ihn automatisch und schüttelte dann hastig den Kopf, als Maus widersprechen wollte. »Was tust du hier? Ich meine: Wie kommst du hierher? Wo sind die anderen?«
Die Fragen waren so überflüssig wie dumm, aber sie waren das Einzige, was ihr im ersten Moment einfiel. Sie hatte den Jungen nicht mehr gesehen, seit er Hendriks Häschern im Haus ihrer Eltern entkommen war, und sie verspürte einen heftigen Anflug schlechten Gewissens, als ihr klar wurde, dass sie seitdem kaum an ihn gedacht hatte.
»Sie haben sie... erschlagen«, antwortete Maus. Seine Stimme war so schwach, dass Leonie ihn kaum verstand, obwohl sie ihr Gesicht so nahe an das seine herangebracht hatte, dass sie sich fast berührten. »Nur Meister Bernhard und ich... sind noch am Leben. Habt ihr ihn gesehen?«
Leonie presste im letzten Moment die Lippen aufeinander, bevor ihr eine Antwort entschlüpfen konnte, aber Großmutter, die ihr gefolgt war, sagte mit leiser, mitfühlender Stimme: »Er ist tot, mein armer Junge. War er dein Vater?«
Maus drehte den Hals, um in Großmutters Gesicht hinaufblicken zu können. Er schüttelte den Kopf. »Tot?« Seine Augen wollten sich mit Tränen füllen, die er mit letzter Kraft niederkämpfte. »Was ist geschehen?«
»Er war ein sehr tapferer Mann«, antwortete Großmutter. »Er hat sein Leben geopfert, damit wir fliehen können.«