»Dann... solltet ihr... gehen.« Maus versuchte sich zu bewegen, erstarrte aber sofort wieder und sog mit einem schmerzerfüllten Laut die Luft zwischen den Zähnen ein. Auch Leonie presste erschrocken die Lippen aufeinander, als sie sah, was die rostigen Eisenfesseln den schmalen Handgelenken des Jungen angetan hatten. Seine Haut war zerschunden, blutig und von schwärenden Wunden übersät, wo er vergeblich versucht hatte, die eisernen Fesseln zu sprengen. Leonie streckte instinktiv die Hände aus, aber sie wagte es nicht, ihn zu berühren.
»Er hat Recht, Leonie«, sagte Großmutter. »Sie werden bald hier sein.«
»Nicht ohne ihn«, antwortete Leonie leise, aber in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Meister Bernhard mochte sein Leben geopfert haben, um das ihre zu retten, aber sie waren zugleich auch einen Handel eingegangen. Er hatte ihnen diese Zelle genannt, weil Maus hier gefangen war; und ganz bestimmt nicht nur, damit sie ihn sahen. Sie griff nach Maus’ Handfesseln und zerrte einen Moment mit aller Kraft daran, aber alles, was sie erreichte, war, dass der Junge ein leises Wimmern ausstieß.
»Das hat keinen Sinn«, sagte sie niedergeschlagen. »Vielleicht kann ich sie aus der Wand reißen.« Sie versuchte es, aber die rostigen Ketten saßen so fest wie einzementiert. Maus keuchte vor Schmerz.
»Die Scharniere«, wimmerte er. »Du musst die Scharniere öffnen!«
Im ersten Moment begriff Leonie nicht, was er meinte, aber dann unterzog sie die eisernen Handfesseln einer zweiten, etwas genaueren Inspektion und verstand. Die breiten Metallringe waren konstruiert wie Handschellen: zwei Halbkreise, die auf der einen Seite von einem Vorhängeschloss und auf der anderen von grobschlächtigen Scharnieren zusammengehalten wurden. Wenn es ihr gelang, die Splinte aus den Scharnieren zu drücken, fielen sie wahrscheinlich einfach auseinander. Unverzüglich versuchte sie es, aber das einzige Ergebnis ihrer Bemühungen war ein abgebrochener Fingernagel.
»Du brauchst ein Werkzeug«, stöhnte Maus. »Irgendetwas, um wenigstens einen Splint rauszuschieben. Den Rest mache ich dann schon.«
Leonie nickte hastig und sah sich verzweifelt in der finsteren kahlen Zelle um, aber abgesehen von dem fauligen Stroh auf dem Boden war da absolut nichts.
Draußen polterten wieder Schritte. Leonie unterdrückte den Impuls, hinauszusehen, aber sie konnte hören, dass es sich um einen deutlich größeren Trupp handelte als beim ersten Mal und dass sich die Verfolger diesmal mehr Zeit ließen. Sie glaubte in einiger Entfernung das dumpfe Zuschlagen einer Tür zu hören. Anscheinend begannen sie nun damit, die Umgebung gründlicher abzusuchen.
»Das hat keinen Zweck«, murmelte Maus. »Bringt euch in Sicherheit.«
»Wir gehen alle zusammen oder gar nicht«, antwortete Leonie grimmig.
»Und es hat überhaupt keinen Sinn, ihr zu widersprechen«, fügte Großmutter hinzu. »Glaub mir, ich weiß das.« Ernster und an Leonie gewandt sagte sie: »Beeil dich lieber. Sie werden gleich hier sein.«
Wie um ihre Worte auf der Stelle zu bestätigen, drang erneut das dumpfe Knallen einer Tür zu ihnen herein; aber im gleichen Moment hatte sie die rettende Idee. Hastig griff sie nach oben, streifte die Kette, die Theresa ihr zurückgegeben hatte, über den Kopf und nestelte mit zitternden Fingern die verchromte Piercing-Nadel ab. Einen winzigen Moment lang drohte sie in Panik zu geraten, als es ihr nicht sofort gelang, die kaum stecknadelkopfgroße Kugel von einem Ende abzuschrauben, dann löste sich das mikroskopisch feine Gewinde und die Kugel fiel zu Boden und hüpfte in die Dunkelheit davon. Das Ende der Nadel, das darunter zum Vorschein kam, war stumpf. Leonie beugte sich hastig vor und drückte es auf den Splint - im ersten Moment ohne den geringsten Erfolg. Dann aber begann sich der rostige Metallstab langsam und widerwillig zu bewegen.
Nicht weit entfernt schlug eine Tür. Schritte polterten.
»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, warnte Großmutter.
Leonie tat, was sie konnte, aber sie wagte es nicht, noch mehr Kraft aufzuwenden. Die dünne Nadel begann sich bereits gefährlich durchzubiegen. Wenn sie zerbrach und sie ihr einziges Werkzeug verloren, war alles vorbei. Der Splint war jetzt gut zur Hälfte herausgerutscht, aber er bewegte sich nur quälend langsam weiter.
Wieder schlug eine Tür. Leonie schätzte, dass ihre Verfolger allerhöchstem noch zwei oder drei Zellen entfernt waren.
»Leonie«, drängte Großmutter.
»Ja!«, schnappte Leonie. »Ich tue ja, was ich kann!«
Der Splint bewegte sich weiter, drohte sich für einen kurzen schrecklichen Moment zu verkanten und rutschte dann plötzlich fast widerstandslos aus dem Scharnier und fiel mit einem hellen Klirren zu Boden. Leonie ließ sich mit einem erleichterten Seufzen zurücksinken, und Maus streifte hastig die Handfessel ab, bückte sich nach dem Splint und machte sich damit an der anderen Schelle zu schaffen. Obwohl er in einer sehr unglücklichen Position dasaß und sein nunmehr freies Handgelenk blutüberströmt war und er bestimmt große Schmerzen hatte, stellte er sich wesentlich geschickter an als Leonie.
»Schnell jetzt«, keuchte er. »Lauft! Ich mache das hier schon.«
Daran zweifelte Leonie keinen Augenblick, als sie sah, wie beinahe mühelos Maus die Handfessel löste, an der sie selbst gerade fast verzweifelt war. Meister Bernhard hatte anscheinend nicht übertrieben, als er behauptet hatte, dass es kein Schloss auf der Welt gab, das Maus widerstehen konnte.
Unmittelbar neben ihnen fiel eine Tür ins Schloss. Leonie hörte ein dumpfes, wütendes Knurren und stampfende Schritte, die auf sie zuhielten. Hastig streifte sie sich die Kette wieder über und stand in der gleichen Bewegung auf. Ihr Blick irrte durch den Raum, tastete nahezu verzweifelt über die schimmligen Wände - und dann war die Tür da.
Sie war nicht einmal überrascht. Ganz im Gegenteil hatte sie tief in sich die ganze Zeit über gewusst, dass es hier einen Ausweg geben musste, ebenso wie sie damals eine Tür gefunden hatte, als sie zusammen mit ihren Eltern in einer ganz ähnlichen Zelle eingesperrt gewesen war.
Nur dass diese Tür vollkommen anders aussah.
Es war eigentlich gar keine richtige Tür, eher ein rechteckiges Loch mit nicht ganz sauberen Rändern, als hätte jemand damit begonnen, eine Tür in die Wand zu brechen, wäre aber nicht ganz fertig geworden. Was dahinter lag, konnte sie nicht erkennen.
Langsam ging sie darauf zu, blieb noch einmal stehen und trat dann mit klopfendem Herzen hindurch. Hinter ihr erscholl ein helles Klirren, mit der Maus’ zweite Handfessel zu Boden fiel, und als Leonie sich umdrehte, sah sie, wie die Tür hinter ihnen aufflog. Ein riesiger Aufseher versuchte sich hereinzudrängen und blieb mit seinen breiten Schultern im Türrahmen stecken wie ein stacheliger Korken in einem zu engen Flaschenhals. Zwischen seinen Beinen wuselten zwei, drei Schusterjungen herein, dann versuchte ein Scriptor dasselbe Kunststück und blieb seinerseits zwischen den Beinen des gepanzerten Riesen stecken und damit war der Eingang ebenso zuverlässig verschlossen wie mit einer meterdicken Stahltür.
Die Schusterjungen, die es hereingeschafft hatten, waren nicht viel glücklicher dran: Maus stampfte einen von ihnen kurzerhand in den Boden, der zweite hatte das Pech, ihrer Großmutter über den Weg zu laufen und sich einen saftigen Tritt einzufangen, und der dritte überlegte es sich angesichts dessen, was seinen Kameraden widerfahren war, offensichtlich im letzten Moment anders und bog in scharfem Winkel ab - dummerweise aber in die falsche Richtung, sodass er in vollem Lauf gegen die Wand klatschte und dann stocksteif umfiel. Nur einen Augenblick später stürmten Großmutter und Maus an ihr vorbei durch die Tür und Leonie trat rasch einen Schritt zurück. Als sie sich umdrehte, blieb Großmutter stehen, schnippte mit den Fingern und die Tür verschwand und machte einer massiven Wand aus grauem Fels Platz.
Leonie riss ungläubig die Augen auf. »Wie hast du das gemacht?«