»Genauso wie du die Tür erschaffen hast.« Großmutter hob mit einer leicht verlegenen Bewegung und einem ebensolchen Lächeln die Schultern und fügte hinzu: »Ehrlich gesagt ist das Fingerschnippen nicht unbedingt nötig. Aber es macht die Sache irgendwie dramatischer, finde ich.«
Leonie fragte sich, woher ihre Großmutter die Kraft zu einem Scherz nahm, aber sie ging nicht darauf ein, sondern sagte: »Ich? Ich habe diese Tür nicht erschaffen.«
»Das hast sie vielleicht nicht im Sinne des Wortes erschaffen, sie uns aber nutzbar gemacht«, beharrte Großmutter. »Denn obwohl diese Tür immer schon da war, können sie die gewöhnlichen Menschen nicht sehen.«
»So wie die Tür in unserem Keller.« Leonie sah sich schaudernd um. Anders als damals, als sie zusammen mit ihren Eltern geflohen war, befanden sie sich jetzt nicht in einem gemauerten Gang, sondern in einem unregelmäßig geformten Tunnel, der eher so aussah, als hätte ihn ein riesiger Wurm mit wenig Sorgfalt aus dem Fels herausgeknabbert. Sie sagte nichts dazu, sondern drehte sich noch einmal in die Richtung um, aus der sie gekommen waren. Die Felswand hinter ihnen sah aus, als gäbe es nichts, was sie erschüttern könnte.
Großmutter schien ihren Blick wohl richtig gedeutet zu haben, denn sie schüttelte mit einem bedauernden Seufzen den Kopf und sagte: »Sie werden den Archivar alarmieren. Und für ihn existiert diese Wand ebenso wenig wie für dich. Wir sollten gehen.«
Leonie widersprach nicht, aber sie fragte sich insgeheim doch, wohin sie gehen sollten. Der Tunnel unterschied sich nicht wirklich von den endlosen Stollen und Gängen des Archivs. Auch er zog sich vollkommen gleichförmig dahin, bis er sich in graugrünem Dunst verlor. Weit niedergeschlagener und mutloser, als sie sich selbst eingestehen wollte, marschierte sie los.
Es war nicht das erste Mal, dass ihr schon nach wenigen Schritten jedes Zeitgefühl abhanden kam. Sie hätte nicht sagen können, ob sie eine Stunde oder eine Minute unterwegs gewesen waren, als sich die graugrüne Unendlichkeit vor ihnen wieder aufhellte und sie schließlich in einen vollkommen leeren Raum traten, dessen Wände und Decke ebenso unregelmäßig geformt waren wie die des Ganges, der sie hierher geführt hatte. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, ein rasches Huschen irgendwo vor sich zu erkennen, doch als sie genauer hinsah, war da nichts. Es überraschte Leonie allerdings kaum, dass ihre Nerven anfingen, ihr den einen oder anderen bösen Streich zu spielen.
»Was ist das hier?«, fragte sie. Obwohl sie die Stimme unwillkürlich zu einem Flüstern gesenkt hatte, warfen die leeren Wände sie als unheimlich verzerrtes Echo zurück, das Leonie ein eisiges Frösteln über den Rücken jagte. Diese Umgebung flößte ihr eine Angst ein, die sie sich nicht erklären konnte. Alles hier wirkte so... unfertig.
»Ich glaube, wir sind in seinem Buch.« Großmutter machte eine angedeutete Kopfbewegung in Richtung Maus. Sie flüsterte ebenfalls, wenn auch vermutlich aus anderen Gründen als Leonie. Maus stand wie gelähmt da und sah sich aus fast entsetzt aufgerissenen Augen um. Dem Gauklerjungen machte dieser unheimliche leere Raum offensichtlich noch mehr Angst als ihr.
Langsam gingen sie weiter. Der Raum war ihr auf den ersten Blick nicht besonders groß vorgekommen, aber sie brauchten erstaunlich lange um ihn zu durchqueren, und als sie versuchte seine Größe mit Blicken zu erfassen, gelang es ihr nicht.
Dafür glaubte sie abermals, ein blitzartiges Huschen aus den Augenwinkeln heraus wahrzunehmen. Doch es war auch diesmal wieder verschwunden, als sie genauer hinsah. Dennoch blieb ein komisches Gefühl zurück. Sie war jetzt nicht mehr sicher wie noch vor einem Moment, wirklich nur einer Täuschung aufgesessen zu sein.
Der Raum endete in einem kurzen Gang, von dem mehrere Kammern abzweigten. Die beiden ersten, an denen sie vorüberkamen, waren ebenso leer wie die erste, in der dritten aber nahm sie wieder eine Bewegung wahr, und diesmal war sie davon überzeugt, sie sich nicht nur eingebildet zu haben. Leonie kämpfte ihre nagende Furcht nieder und trat mit einem entschlossenen Schritt in den Raum.
Unmittelbar vor ihr saß eine Maus.
Leonie blinzelte. Eigentlich war an der Maus nichts Besonderes; es war eine ganz normale graue Hausmaus, vielleicht fünf oder sechs Zentimeter lang und mit einem dünnen, nackten Schwanz. Und einer dick verschorften Schramme auf der Nase.
»Conan?«, murmelte sie.
Die Maus setzte sich auf die Hinterläufe auf und schnüffelte so aufgeregt in ihre Richtung, dass ihre Barthaare zitterten. Es war Conan, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Leonie wollte sich ganz automatisch in die Hocke sinken lassen und die Hand nach ihr ausstrecken, aber die Maus drehte sich plötzlich um und war dann mit wenigen trippelnden Schritten verschwunden. Leonie blinzelte noch einen Augenblick lang verständnislos ins Leere, dann kehrte sie zu Maus und ihrer Großmutter zurück. Großmutter warf ihr einen fragenden Blick zu, auf den Leonie aber nur mit einem angedeuteten Achselzucken reagierte, und zu ihrer Erleichterung gab sich ihre Großmutter damit zufrieden. Sie gingen schweigend weiter.
Auch der nächste Raum war groß und nicht ganz symmetrisch geformt, aber anders als die, durch die sie bisher gekommen waren, nicht vollkommen leer - auch wenn Leonie beim allerbesten Willen nicht sagen konnte, was er eigentlich enthielt. Es gab eine Anzahl sonderbar formloser Umrisse, die sich in unentwegter nebelhafter Bewegung zu befinden schienen, sodass es unmöglich war, sie wirklich zu erkennen. Auf eine kaum in Worte zu fassende Weise kamen sie ihr vage vertraut und zugleich unendlich fremd vor.
»Was... was ist das?«, murmelte sie. Ihr Herz klopfte. Sie rechnete nicht wirklich mit einer Antwort. Aber sie bekam sie zumindest indirekt, als sie in Maus’ Gesicht blickte. Er war kreidebleich geworden, und in seinen Augen stand ein Erschrecken geschrieben, dessen wahres Ausmaß sie noch nicht einmal zu erahnen vermochte.
»Er tut mir so unendlich Leid, mein Junge«, sagte Großmutter leise. Sie trat dichter an Maus heran und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. »Ich hätte es dir sagen sollen.«
»Ihm was sagen?«, fragte Leonie.
»Dass das hier sein Buch ist«, erklärte Großmutter. »Alles, was in den Annalen des Archivs über sein Leben aufgezeichnet ist.«
»Aber es ist vollkommen leer!«
Sie las die Antwort in den Augen ihrer Großmutter, und nur einen Moment später sprach Maus aus, was Leonie kaum wagte zu denken. »So wie mein Leben«, murmelte er. »Hier ist nichts, weil ich nie gelebt habe.«
»Aber das stimmt doch nicht«, protestierte Leonie. »Du bist...«
»... ein Ding, das der Archivar erschaffen hat«, fiel ihr Maus ins Wort. »Nichts als ein Werkzeug.« Er lachte, aber es klang nicht echt, nur ein Laut, mit dem er die Tatsache verbergen wollte, dass er mit Mühe die Tränen zurückhielt. »Hier ist nichts, weil ich nie gelebt habe. Ich bin gar kein richtiger Mensch.«
Der Schmerz, der aus diesen Worten sprach, brach Leonie fast das Herz. »Das ist nicht wahr«, sagte sie wütend. »Du bist hundertmal mehr Mensch als viele andere, die ich kenne!«
Maus sah sie an. Seine Augen schimmerten feucht. »Das ist sehr freundlich von Euch, edles Fräulein«, sagte er, und dass er dabei wieder in seine alte, förmliche Anrede zurückfiel, war für Leonie in diesem Moment vielleicht das Allerschlimmste. »Aber ich fürchte, dass die Wahrheit deutlich zu sehen ist.« Er zog die Nase hoch. »Jedenfalls verstehe ich jetzt, warum Meister Bernhard nicht mehr leben wollte.«
»Du irrst dich, mein lieber Junge«, erwiderte Großmutter sanft. »Ich weiß wenig über Meister Bernhard, aber ich habe selten jemanden getroffen, der etwas Menschlicheres getan hätte. Er wurde vielleicht nicht als Mensch geboren, aber mit dem, was er getan hat, ist er unwiderruflich dazu geworden.«
»Dann sollte ich mich vielleicht auch dem Archivar zum Fraß vorwerfen«, sagte Maus bitter.