Großmutter ignorierte seine Worte. »Es ist nicht wichtig, woher du dein Leben hast, mein Junge. Wichtig ist einzig und allein, was du damit machst.«
Maus schwieg. In seinen Augen glitzerten immer noch Tränen, aber irgendetwas in seinem Gesicht... veränderte sich. Leonie konnte nicht sagen was, aber sie spürte deutlich, dass etwas in Maus vorging. Etwas Wichtiges. Zwei oder drei Atemzüge lang starrte Maus sie noch auf diese sonderbare, fast furchteinflößende Art an - dann fuhr er auf dem Absatz herum und war wie der Blitz verschwunden. Leonie wollte ihm nacheilen, aber ihre Großmutter hielt sie mit einer raschen Bewegung zurück.
»Lass ihn«, meinte sie. »Er braucht jetzt Zeit für sich alleine.«
Das bezweifelte Leonie nicht - nur war im Moment ganz und gar nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Sie sah sich unschlüssig um und ein ganz kleines bisschen ängstlich.
Und vielleicht sogar mehr als nur ein ganz kleines bisschen.
»Und wie kommen wir jetzt hier hinaus?«
»So wie wir hereingekommen sind.« Großmutter deutete nach vorne. »Mach dir keine Sorgen um den Jungen. Ich bin sicher, er findet aus eigener Kraft raus. Man sieht es ihm zwar nicht an, aber er ist sehr stark und verfügt über ganz spezielle Fähigkeiten. Ich spüre so etwas.«
Das war nicht die Antwort, die Leonie hatte hören wollen. Aber sie kannte ihre Großmutter auch gut genug um zu wissen, dass sie zumindest im Moment keine andere bekommen würde, und so gingen sie weiter. Insgeheim war Leonie froh, diese gespenstische Kammer zu verlassen. Es wurde jedoch nicht besser, als sie wieder in den düsteren Gang hinaustraten. Leonie hätte geschworen, dass sie gerade noch nicht da gewesen war, nun aber lagen wenige Schritte vor ihnen die ersten Stufen einer ausgetretenen, in einem gefährlichen Winkel nach oben führenden Treppe. Von Maus war nichts zu entdecken.
Zwischen ihnen und der Treppe lag jetzt nur noch eine einzige Tür. Sie ging mit schnellen Schritten daran vorbei - nach dem, was sie gerade erlebt hatte, wollte sie gar nicht mehr sehen, was sich dahinter verbarg -, aber ihre Großmutter blieb stehen und trat nach kurzem Zögern vollends hindurch. Widerwillig machte Leonie kehrt und folgte ihr.
Allerdings nur, um diesen Entschluss sofort wieder zu bereuen.
Der Raum, der vor ihnen lag, war noch weitaus unheimlicher als der vorhergehende. Nichts war hier so, wie es sein sollte. Das Ganze hatte eine Form, die mit Blicken nicht zu erfassen war, als wäre all das hier nach den Regeln einer Geometrie errichtet, die nicht Teil der vertrauten Schöpfung war. Das Licht wirkte... krank, und auch dieser Raum war voller sonderbarer Gegenstände, deren bloßer Anblick allein schon reichte, um Leonie mit Unbehagen zu erfüllen.
Einen Unterschied jedoch gab es: Diesmal dauerte es nur einen Moment, bis Leonie die Bedeutung des einen oder anderen Umrisses zu erkennen begann. Da war eine riesige, zusammengestauchte Kommode, deren halb offen stehende Schubladen an gierig gefletschte Raubtiermäuler erinnerten. Etwas wie ein auf grässliche Weise verzerrtes Gitterbett, über dem der Albtraum eines Mobiles hing, das nur aus Zähnen und rasiermesserscharfen Klingen zu bestehen schien. An den Wänden waren Bilder, die schauderhafte Monster und mörderische Clownsgesichter zeigten, und andere, noch schlimmere Dinge. Auch wenn schon dieser erste schemenhafte Eindruck reichte, Leonie einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen, so war dies doch nichts anderes als ein Kinderzimmer, oder genauer gesagt: der Albtraum eines Kinderzimmers.
»Großer Gott«, hauchte sie.
Ihre Großmutter reagierte nicht darauf, ja, sie schien Leonie nicht einmal gehört zu haben. Sie verharrte wie gelähmt und auf ihrem Gesicht stand ein Ausdruck blanken Entsetzens geschrieben. Dabei sah sie nicht so aus, als hätte sie der bloße Anblick dieses grässlichen Zimmers so erschreckt. Vielmehr wirkte sie wie ein Mensch, der etwas sah, was zu erkennen er sich einfach weigerte.
»Aber das... das kann doch unmöglich...« Ihre Stimme versagte. Leonie sah, wie sie ihre schmalen Hände so fest zu Fäusten ballte, dass die Knöchel wie weiße Narben durch die Haut stachen.
»Großmutter?«, fragte Leonie alarmiert.
Weitere fünf oder zehn quälend endlose Sekunden verstrichen, in denen ihre Großmutter aus aufgerissenen Augen auf das unglaubliche Bild starrte. Dann gab sie sich einen sichtlichen Ruck, murmelte: »Nein. Das kann nicht sein«, und drehte sich zu Leonie um. Ein reichlich verunglücktes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Entschuldige. Ich habe nur für einen Moment gedacht...« Wieder brach sie ab und schüttelte den Kopf, um kurz darauf mit gepresster Stimme neu anzusetzen: »Ich muss mich getäuscht haben. Komm jetzt. Wir müssen gehen.«
Sie gab Leonie gar keine Gelegenheit, zuzustimmen oder zu widersprechen, sondern ging mit schnellen Schritten an ihr vorbei und wandte sich der Treppe zu. Leonie warf ihr einen vollkommen verstörten Blick hinterher und beeilte sich dann, ihr zu folgen.
Sie hatten die Treppe kaum erreicht, da ertönte hinter ihnen ein ohrenbetäubendes, dumpfes Krachen; Felsgestein barst und einzelne Steinbrocken polterten auf den Boden. Leonie hätte nicht einmal zurückblicken müssen um zu wissen, was den Lärm verursachte.
Sie tat es trotzdem und sie wurde nicht enttäuscht.
Immerhin waren es keine Aufseher, die mit wehenden Mänteln hinter ihnen herangestürmt kamen, sondern nur drei oder vier Scriptoren und eine Hand voll Schusterjungen. Und wäre sie allein gewesen, dann hätte sie keine Sekunde lang daran gezweifelt, dass sie ihren Verfolgern ohne sonderliche Anstrengung davonlaufen könnte.
Unglückseligerweise war sie das nicht. Ihre Großmutter hatte zwar bereits zwei oder drei Stufen Vorsprung gewonnen, aber sie wurde auch mit jeder Stufe langsamer, und Leonie hatte keineswegs vergessen, dass sie vor kurzem schon einmal vor Erschöpfung in ihren Armen zusammengebrochen war. Woher sie die Kraft nahm, überhaupt noch weiterzulaufen, war ihr ein Rätsel. Während Leonie mit weit ausholenden Sätzen zu ihr aufholte, überschlug sie in Gedanken ihre Chancen und kam zu dem Schluss, dass die Scriptoren sie spätestens auf der Hälfte der Treppe eingeholt haben würden.
»Lauf!«, keuchte Großmutter. »Bring dich in Sicherheit! Du kannst es schaffen!«
Leonie machte sich nicht einmal die Mühe, zu antworten, sondern griff kommentarlos nach ihrem Arm und versuchte sie zu stützen, damit sie wenigstens ein bisschen schneller laufen konnte. Es half tatsächlich, allerdings nur für einen kurzen Moment, dann sank ihre Großmutter mit einem erschöpften Stöhnen gegen die Wand und versuchte ihre Hände abzustreifen.
»Das hat keinen Sinn mehr«, murmelte sie. »Ich schaffe es nicht.«
Das Schlimme war, dass sie vermutlich Recht hatte. Leonie musste nur einen einzigen Blick in Großmutters Gesicht werfen um zu erkennen, dass sie nun endgültig und unwiderruflich am Ende ihrer Kräfte angelangt war. Und die Treppe führte noch gute zwanzig oder dreißig Stufen weit nach oben, bevor sie vor einer wuchtigen hölzernen Tür endete.
Der Verzweiflung nahe sah sie nach unten; gerade im richtigen Moment, um einen Schusterjungen zu erblicken, der hereingefegt kam und wie ein lebender Gummiball die Treppe hinaufsprang.
Wenigstens eine Stufe weit.
Als er die zweite hinaufhüpfen wollte, tauchte eine winzige graue Maus vor ihm auf, die ihm ohne das mindeste Zögern ins Gesicht sprang. Der Schusterjunge kreischte erschrocken, verlor vor lauter Überraschung das Gleichgewicht und stürzte mit hilflos rudernden Armen nach hinten.
So komisch der Anblick war, viel nutzte Conans Mut nicht. Schon stürmte gleich ein halbes Dutzend weiterer Schusterjungen heran, gefolgt von drei oder vier Scriptoren, die triumphierend aufkreischten, als sie ihrer Beute ansichtig wurden, und ihre Schritte noch einmal beschleunigten.
Keiner von ihnen schaffte es bis zur Treppe.
Conan hüpfte von seinem ersten Opfer herunter und grub seine winzigen, aber nadelspitzen Zähne in die nackten Zehen eines weiteren Schusterjungen, und plötzlich war eine zweite Maus da, dann eine dritte, eine vierte und fünfte, und schließlich wimmelte der Bereich unmittelbar vor der Treppe nur so von Mäusen, die scheinbar aus dem Nichts auftauchten - was sie aber nicht daran hinderte, sich unverzüglich auf die Scriptoren und ihre kleineren Brüder zu stürzen.
Leonie spürte eine sanfte Berührung am Fuß, senkte den Blick und fuhr erschrocken zusammen, als sie die quirlige braungraue Flutwelle sah, die irgendwo hinter ihnen begann und sich piepsend und pfeifend über die Treppe ergoss, um über die schwarz gekleideten Gnome herzufallen. So ungestüm war der Anprall der lebenden Woge aus Hunderten und Aberhunderten von Mäusen, dass die Schusterjungen einfach von den Füßen gerissen wurden und selbst die viel größeren Scriptoren wankten und einer von ihnen gar auf die Knie herabfiel.
»Leonie! Hierher!«
Der Schrei war unter dem Fiepen Hunderter wütender Mäusestimmen und dem Kratzen und Scharren Tausender scharfer Krallen auf hartem Stein kaum zu hören. Dennoch fuhr Leonie instinktiv herum und blinzelte zum oberen Ende der Treppe hinauf. Die Tür stand jetzt weit offen und war von fast schmerzhaft grellem Licht erfüllt, sodass sie die kleinwüchsige Gestalt, die darunter erschienen war und ihr hektisch zuwinkte, nur als schwarzen Umriss ausmachen konnte. Aber sie erkannte die Stimme.
Ohne noch einen Blick nach unten zu werfen, ergriff sie die Hand ihrer Großmutter und lief weiter, so schnell es die immer rascher nachlassenden Kräfte der alten Frau zuließen. Im ersten Moment hatte sie das Gefühl, kaum von der Stelle zu kommen, doch dann löste sich Maus von seinem Platz unter der Tür und eilte ihnen entgegen, und mit seiner Hilfe ging es besser. Ihre Großmutter schwankte immer stärker, und Leonie bezweifelte ernsthaft, dass sie aus eigener Kraft auch nur eine einzige weitere Stufe geschafft hätte. Maus und sie trugen die alte Frau im Grunde mehr als dass sie aus eigener Kraft ging. Trotzdem näherten sie sich dem Ende der Treppe rasch und erreichten die rettende Tür binnen weniger Augenblicke.
Und beinahe hätten sie es sogar geschafft.
Maus erreichte die Tür als Erster, stürmte hindurch und zog Großmutter so heftig hinter sich her, dass sie um ein Haar und Leonie tatsächlich das Gleichgewicht verlor. Sie geriet ins Stolpern, streckte den Arm aus und fing sich an der Wand ab, bevor sie stürzen und sich auf den steinernen Stufen womöglich schwer verletzen konnte.
Als sie sich aufrappeln wollte, schloss sich eine knochige Hand um ihr linkes Fußgelenk und riss so derb daran, dass Leonie endgültig nach vorne fiel.
Irgendwie schaffte sie es im letzten Moment, ihren Sturz mit den Armen halbwegs abzufangen, aber sie prellte sich dabei so heftig beide Handgelenke, dass sie vor Schmerz aufstöhnte und bunte Sterne vor ihren Augen explodierten. Sie blieb etliche Sekunden lang benommen liegen und biss die Zähne zusammen, bevor sie Schmerz und Tränen so weit zurückgekämpft hatte, dass sie den Kopf wenden und zurücksehen konnte.
Soweit ihr Blick reichte, schien sich die Treppe in einen lebendigen brodelnden Teppich verwandelt zu haben. Es waren buchstäblich Tausende von Mäusen, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren und sich todesmutig auf die Scriptoren und ihre kleineren Brüder gestürzt hatten. Von den Schusterjungen war nichts mehr zu erkennen, abgesehen von einer Hand hier und einem Fuß dort, die wie die Glieder von Ertrinkenden aus der Oberfläche eines kochenden Sumpfes ragten. Selbst die meisten Scriptoren waren unter dem Ansturm der Mäusearmee zu Boden gegangen, auch wenn sie nicht ganz so große Schwierigkeiten hatten, sich der kleinen Quälgeister zu erwehren.
Die meisten. Aber nicht alle.
Ein einzelner Scriptor hatte es bis zu ihr hinauf geschafft. Auch er war auf Hände und Knie herabgesunken. Mäuse krabbelten zu Hunderten auf ihm herum, zerrten an seinem Mantel und zerkratzten sein Gesicht und seine Hände, und obwohl die Angreifer winzig waren, blutete der hässliche Gnom bereits aus zahlreichen Wunden. Dennoch stemmte er sich mit nur einer Hand in die Höhe und zerrte mit der anderen nochmals kräftig an ihrem Fuß.
Leonie benutzte den anderen Fuß, um wuchtig in ihn hineinzutreten. Der Scriptor kreischte und begann heftig aus der Nase zu bluten, ließ ihren Fuß aber trotzdem nicht los, sondern klammerte sich nur mit noch größerer Kraft daran fest und nahm nun auch noch die andere Hand zu Hilfe, um sie in die Tiefe zu zerren. Leonie versetzte ihm einen weiteren, noch härteren Tritt, dann gab sie es auf und begann mit zusammengebissenen Zähnen die Stufen hinaufzukriechen, wobei sie den Scriptor einfach hinter sich herschleifte. Auf den ersten ein oder zwei Stufen ging es noch ganz gut, dann aber verstärkte der Scriptor seinen Griff plötzlich so sehr, dass sie vor Schmerz aufstöhnte. Zu allem Überfluss hatte er sich offensichtlich mit den Füßen irgendwo festgehakt, denn sosehr sich Leonie auch anstrengte, sie kam einfach nicht mehr von der Stelle. Nicht einmal zwei weitere deftige Fußtritte auf seine gewiss ohnehin schon gebrochene Nase brachten den hässlichen Gnom dazu, sie loszulassen. Ganz in Gegenteil spürte Leonie, wie sie allmählich, aber auch unaufhaltsam, die Treppe wieder hinabgezogen wurde. Verzweifelt verdoppelte sie ihre Anstrengungen, sich loszureißen, erreichte damit aber nur, dass sich die rasiermesserscharfen Fingernägel des Scriptors noch tiefer in ihr Fleisch gruben und der Schmerz ihr schon wieder die Tränen in die Augen schießen ließ.
Plötzlich erscholl über ihr ein wütendes Knurren. Leonie sah einen verschwommenen Schemen in einem zerfetzten schwarzen Mantel über sich hinwegspringen, den Scriptor packen und ohne die geringste Mühe in die Tiefe schleudern; dann wirbelte Maus herum, riss sie grob am Arm in die Höhe und schleifte sie so unsanft hinter sich her, dass sie sich zu allem Überfluss auch noch die Schienbeine aufschürfte. Dennoch erreichten sie auf diese Weise binnen weniger Augenblicke die rettende Tür, und Maus stieß sie so derb weiter, dass sie hindurchstolperte und nach zwei ungeschickt taumelnden Schritten auf die Knie fiel. Diesmal war der Schmerz so schlimm, dass ihr übel wurde.
Leonie sank kraftlos nach vorne und konnte nur noch mit Mühe verhindern, dass sie gänzlich stürzte. Alles drehte sich um sie, und ihre Knie fühlten sich an, als hätte sie jemand mit einem Vorschlaghammer behandelt. Wie durch einen dämpfenden Nebel hindurch hörte sie, dass Maus hinter ihr die Tür zuwarf und mit fliegenden Fingern den Riegel vorlegte, und gleichzeitig sagte Maus vor ihr: »Leonie! Ist alles in Ordnung?«
»Schon gut«, murmelte sie benommen. »Hauptsache, ich...« Sie stockte. Für die Dauer eines einzelnen schweren Herzschlags blinzelte sie verständnislos in Maus’ Gesicht, das durch den Schleier ihrer Tränen immer wieder auseinander zu fließen schien, dann drehte sie mit einem Ruck den Kopf und starrte die kleine, in einen zerfetzten schwarzen Kapuzenmantel gehüllte Gestalt an, die gerade damit beschäftigt war, mit sichtbarer Mühe einen überdimensionalen Riegel vor die Tür zu wuchten, durch die sie gerade gestolpert waren. Aber wie konnte Maus gleichzeitig den Riegel vorlegen und hier stehen und sie fragen, wie sie sich fühlte?
Maus - der Maus, der an der Tür stand - drehte sich um und Leonie kannte die Antwort auf ihre Frage: Maus war nicht Maus.
Das Gesicht, das unter der zerknitterten schwarzen Kapuze zum Vorschein kam, gehörte einem Scriptor.
Leonie fiel in Ohnmacht.