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»Das hast du dir jetzt selbst zuzuschreiben. Und wahrscheinlich wirst du niemals begreifen, was für ein Glück du gehabt hast. Ich bringe dich jetzt nach draußen. Und ich rate dir dringend, dich hier nie wieder blicken zu lassen!«

Sie trat ans Fenster und sah einen Moment nachdenklich auf das darunter liegende Flachdach der Garage hinab. Es war kaum mehr als einen Meter entfernt. Nicht besonders viel, nicht einmal für eine Maus, aber irgendetwas in Leonie sträubte sich dagegen, den winzigen Nager einfach aus dem Fenster zu werfen - und außerdem spürte sie, dass sie sowieso nicht mehr schlafen konnte. Also überlegte sie nur noch einen kurzen Moment, zog sich hastig an, verließ das Zimmer und lief mit schnellen Schritten die Treppe hinunter. Sie ging durch die Küche auf die Terrasse und in den Garten hinaus, wobei ihr auffiel, dass im ganzen Haus Licht brannte - einschließlich des Geschäftes. Sie konnte den flachen Anbau von hier aus zwar nicht einsehen, aber sie erkannte den Lichtschein, der auf die Straße fiel, was sie einigermaßen verwunderte. Ihr Vater hatte schon vor Jahren eine Zeitschaltuhr eingebaut, die pünktlich um Mitternacht die Schaufensterbeleuchtung abschaltete, um Energie zu sparen. Und Dinge, die ihr Vater einbaute, pflegten im Allgemeinen zuverlässig zu funktionieren.

Die Maus in ihrer Hand wurde unruhig und Leonie verscheuchte den Gedanken und eilte auf nackten Füßen weiter. Das Gras kitzelte unter ihren Fußsohlen, als sie tiefer in den großen Garten vordrang. Da kein Mond schien - es war Neumond - war es fast vollkommen dunkel, aber sie war schließlich hier aufgewachsen und kannte buchstäblich jeden Fußbreit Boden und jeden Grashalm. Die Maus duckte den Kopf zwischen ihren Mittel- und Ringfinger, so als versuche sie hinunterzuspringen, aber Leonie ging unbeeindruckt weiter und trug sie bis fast ans jenseitige Ende des großen Gartens; nicht dass sie am Ende noch auf die Idee kam, schnurstracks ins Haus zurückzulaufen, und das ganze Theater von vorne begann.

Schließlich ließ sie sich in die Hocke sinken und setzte das Tierchen ins Gras. Einen Moment lang blieb es einfach reglos sitzen und sah fast vorwurfsvoll zu ihr hoch, dann verschwand es blitzartig im hohen Gras. Leonie hörte noch ein kurzes Rascheln, dann war keine Spur mehr von der Maus zu sehen.

Sie ging langsam ins Haus zurück, langsamer, als nötig gewesen wäre. Sie wusste, dass sie sowieso nicht mehr schlafen konnte, und sie wollte es auch gar nicht mehr. Der Horizont im Osten begann sich allmählich grau zu färben, und es wurde trotz der noch frühen Stunde bereits warm. Der Tag würde bestimmt wieder heiß werden, so wie die vorhergehenden. In zwei Tagen begannen die Sommerferien, aber nicht nur nach Leonies Einschätzung, sondern auch nach der der Meteorologen im Fernsehen, war es bereits jetzt der heißeste Sommer der letzten zwanzig Jahre. Vielleicht sollte sie diese wenigen Minuten, in denen es noch angenehm kühl war, genießen. Sie brauchte zwei oder drei Minuten, um den Garten zu durchqueren, und als sie die Terrasse betrat, überkam sie plötzlich eine große Traurigkeit. Es war genau hier gewesen, wo sie zum letzten Mal in Ruhe mit ihrer Großmutter zusammengesessen hatte; an dem großen schmiedeeisernen Tisch mit der Glasplatte, an dem sie so gerne gefrühstückt hatte, und für einen winzigen Moment glaubte sie tatsächlich, sie noch einmal zu sehen; ein blasser, halb durchscheinender Schemen wie ein Geist in einem alten englischen Gruselfilm.

Leonie spürte, wie ihre Augen schon wieder feucht wurden. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht, um die Tränen fortzuwischen, und als sie die Augen wieder öffnete, war der Schemen immer noch da.

Leonie blinzelte. Der Schemen war immer noch da.

Er sah nicht wirklich aus wie ein Gespenst aus einem alten Horrorfilm. Die waren meistens albern und nur zu oft so schlecht gemacht, dass sie eher zum Lachen reizten, als dem Zuschauer Furcht einzujagen. Auch dieser Lichtschatten machte Leonie keine Angst, aber er war... unheimlich.

Leonie blinzelte erneut und der Geist war immer noch da. Sie darf es nicht tun, Leonie, wisperte eine Stimme in ihren Gedanken. Was ich getan habe, war unverzeihlich, aber sie wird alles nur noch viel schlimmer machen!

»Großmutter?!«, murmelte Leonie. Mit klopfendem Herzen machte sie einen Schritt auf die halb durchscheinende Gestalt zu und blieb wieder stehen. Sie darf es nicht tun!, wisperte die Stimme. Du musst sie aufhalten! Dann verschwand die Gestalt. Von einem Blinzeln auf das andere war sie nicht mehr da.

Und wahrscheinlich war sie das auch nie gewesen, dachte Leonie traurig. Ebenso wenig, wie sie Großmutters Gesicht gestern Abend im Spiegel gesehen hatte. Es war wohl so, wie ihre Mutter sagte: Manchmal war der Schmerz, der einem zugefügt wurde, so gewaltig, dass man anfing, Dinge zu sehen, die gar nicht da waren. Das hatte nichts damit zu tun, dass man im Begriff war, den Verstand zu verlieren, sondern war ein ganz normaler Schutzmechanismus, den eben jener Verstand entwickelte, um nicht an der Trauer zu zerbrechen.

Diese Erkenntnis mochte logisch und sogar richtig sein, aber sie linderte den Schmerz kein bisschen, der sich wie eine glühende Messerklinge in Leonies Brust grub. Mit einem lautlosen Seufzen drehte sie sich zum Haus um.

Die Maus saß auf der Türschwelle und sah mit schräg gehaltenem Kopf in ihre Richtung. Im ersten Moment wollte Leonie zornig werden, aber es gelang ihr einfach nicht. Stattdessen breitete sich plötzlich ein trauriges Lächeln auf ihren Zügen aus. Dicht vor der Maus ging sie in die Hocke, streckte die Hand aus und bewegte die Finger. Gehorsam sprang die winzige Maus auf ihre Hand, trippelte an ihrem Arm hinauf und nahm auf ihrer Schulter Platz. Ihre Barthaare kitzelten an Leonies Wange, als sie sich wieder aufrichtete und ins Haus zurückging. »Dir ist schon klar, dass du nicht bleiben kannst? Wenn mein Vater dich sieht, trifft ihn der Schlag - und dich kurz darauf wahrscheinlich auch.«

Die Maus rutschte auf ihrer Schulter hin und her, und Leonie spürte, wie sich ihre winzigen Krallen in den Stoff ihrer Bluse gruben, damit sie nicht den Halt verlor. Wieso sprach sie eigentlich mit einer Maus? Vielleicht sollte sie doch ein wenig aufpassen. Zu wissen, dass der eigene Verstand anfing, einem Streiche zu spielen, war kein Freibrief dafür, einfach die Zügel schießen zu lassen.

Sie ging in die Küche, schaltete das Licht über der Anrichte ein und nahm einen Liter Milch aus dem Kühlschrank, von dem sie einen kleinen Schluck in eine Schale goss, bevor sie behutsam die Maus von der Schulter nahm und sie daneben setzte.

Na prima, dachte sie spöttisch, jetzt füttere ich das Vieh auch noch, statt mir Gedanken darüber zu machen, wie ich es los werde!

Die Maus sah sie so strafend an, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. Sie schnupperte an der Milch, machte aber keinen Versuch, davon zu trinken. Leonie betrachtete sie nachdenklich. Sie war mittlerweile fast völlig sicher, dass es sich um dieselbe Maus handelte, die sie in der Zentralbibliothek getroffen hatte, kurz bevor Professor Wohlgemut und ihre Großmutter auf ihr Missgeschick in der Seitenkammer aufmerksam geworden waren - dafür sprach schon allein ihr sonderbares Benehmen. Aber wie kam sie hierher? Die einzige Erklärung, die ihr einfiel - so unwahrscheinlich sie auch klingen mochte - war die, dass sie sie mitgebracht hatte. Vielleicht in einer Falte ihrer Kleidung, vielleicht auch in Großmutters Handtasche. Und dieser Gedanke war noch nicht einmal halb so sonderbar wie das komische Benehmen des Tierchens. Vielleicht war es ja eine dressierte Maus, die irgendjemandem weggelaufen war und jetzt ein neues Zuhause suchte.