Conan hüpfte von seinem ersten Opfer herunter und grub seine winzigen, aber nadelspitzen Zähne in die nackten Zehen eines weiteren Schusterjungen, und plötzlich war eine zweite Maus da, dann eine dritte, eine vierte und fünfte, und schließlich wimmelte der Bereich unmittelbar vor der Treppe nur so von Mäusen, die scheinbar aus dem Nichts auftauchten - was sie aber nicht daran hinderte, sich unverzüglich auf die Scriptoren und ihre kleineren Brüder zu stürzen.
Leonie spürte eine sanfte Berührung am Fuß, senkte den Blick und fuhr erschrocken zusammen, als sie die quirlige braungraue Flutwelle sah, die irgendwo hinter ihnen begann und sich piepsend und pfeifend über die Treppe ergoss, um über die schwarz gekleideten Gnome herzufallen. So ungestüm war der Anprall der lebenden Woge aus Hunderten und Aberhunderten von Mäusen, dass die Schusterjungen einfach von den Füßen gerissen wurden und selbst die viel größeren Scriptoren wankten und einer von ihnen gar auf die Knie herabfiel.
»Leonie! Hierher!«
Der Schrei war unter dem Fiepen Hunderter wütender Mäusestimmen und dem Kratzen und Scharren Tausender scharfer Krallen auf hartem Stein kaum zu hören. Dennoch fuhr Leonie instinktiv herum und blinzelte zum oberen Ende der Treppe hinauf. Die Tür stand jetzt weit offen und war von fast schmerzhaft grellem Licht erfüllt, sodass sie die kleinwüchsige Gestalt, die darunter erschienen war und ihr hektisch zuwinkte, nur als schwarzen Umriss ausmachen konnte. Aber sie erkannte die Stimme.
Ohne noch einen Blick nach unten zu werfen, ergriff sie die Hand ihrer Großmutter und lief weiter, so schnell es die immer rascher nachlassenden Kräfte der alten Frau zuließen. Im ersten Moment hatte sie das Gefühl, kaum von der Stelle zu kommen, doch dann löste sich Maus von seinem Platz unter der Tür und eilte ihnen entgegen, und mit seiner Hilfe ging es besser. Ihre Großmutter schwankte immer stärker, und Leonie bezweifelte ernsthaft, dass sie aus eigener Kraft auch nur eine einzige weitere Stufe geschafft hätte. Maus und sie trugen die alte Frau im Grunde mehr als dass sie aus eigener Kraft ging. Trotzdem näherten sie sich dem Ende der Treppe rasch und erreichten die rettende Tür binnen weniger Augenblicke.
Und beinahe hätten sie es sogar geschafft.
Maus erreichte die Tür als Erster, stürmte hindurch und zog Großmutter so heftig hinter sich her, dass sie um ein Haar und Leonie tatsächlich das Gleichgewicht verlor. Sie geriet ins Stolpern, streckte den Arm aus und fing sich an der Wand ab, bevor sie stürzen und sich auf den steinernen Stufen womöglich schwer verletzen konnte.
Als sie sich aufrappeln wollte, schloss sich eine knochige Hand um ihr linkes Fußgelenk und riss so derb daran, dass Leonie endgültig nach vorne fiel.
Irgendwie schaffte sie es im letzten Moment, ihren Sturz mit den Armen halbwegs abzufangen, aber sie prellte sich dabei so heftig beide Handgelenke, dass sie vor Schmerz aufstöhnte und bunte Sterne vor ihren Augen explodierten. Sie blieb etliche Sekunden lang benommen liegen und biss die Zähne zusammen, bevor sie Schmerz und Tränen so weit zurückgekämpft hatte, dass sie den Kopf wenden und zurücksehen konnte.
Soweit ihr Blick reichte, schien sich die Treppe in einen lebendigen brodelnden Teppich verwandelt zu haben. Es waren buchstäblich Tausende von Mäusen, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren und sich todesmutig auf die Scriptoren und ihre kleineren Brüder gestürzt hatten. Von den Schusterjungen war nichts mehr zu erkennen, abgesehen von einer Hand hier und einem Fuß dort, die wie die Glieder von Ertrinkenden aus der Oberfläche eines kochenden Sumpfes ragten. Selbst die meisten Scriptoren waren unter dem Ansturm der Mäusearmee zu Boden gegangen, auch wenn sie nicht ganz so große Schwierigkeiten hatten, sich der kleinen Quälgeister zu erwehren.
Die meisten. Aber nicht alle.
Ein einzelner Scriptor hatte es bis zu ihr hinauf geschafft. Auch er war auf Hände und Knie herabgesunken. Mäuse krabbelten zu Hunderten auf ihm herum, zerrten an seinem Mantel und zerkratzten sein Gesicht und seine Hände, und obwohl die Angreifer winzig waren, blutete der hässliche Gnom bereits aus zahlreichen Wunden. Dennoch stemmte er sich mit nur einer Hand in die Höhe und zerrte mit der anderen nochmals kräftig an ihrem Fuß.
Leonie benutzte den anderen Fuß, um wuchtig in ihn hineinzutreten. Der Scriptor kreischte und begann heftig aus der Nase zu bluten, ließ ihren Fuß aber trotzdem nicht los, sondern klammerte sich nur mit noch größerer Kraft daran fest und nahm nun auch noch die andere Hand zu Hilfe, um sie in die Tiefe zu zerren. Leonie versetzte ihm einen weiteren, noch härteren Tritt, dann gab sie es auf und begann mit zusammengebissenen Zähnen die Stufen hinaufzukriechen, wobei sie den Scriptor einfach hinter sich herschleifte. Auf den ersten ein oder zwei Stufen ging es noch ganz gut, dann aber verstärkte der Scriptor seinen Griff plötzlich so sehr, dass sie vor Schmerz aufstöhnte. Zu allem Überfluss hatte er sich offensichtlich mit den Füßen irgendwo festgehakt, denn sosehr sich Leonie auch anstrengte, sie kam einfach nicht mehr von der Stelle. Nicht einmal zwei weitere deftige Fußtritte auf seine gewiss ohnehin schon gebrochene Nase brachten den hässlichen Gnom dazu, sie loszulassen. Ganz in Gegenteil spürte Leonie, wie sie allmählich, aber auch unaufhaltsam, die Treppe wieder hinabgezogen wurde. Verzweifelt verdoppelte sie ihre Anstrengungen, sich loszureißen, erreichte damit aber nur, dass sich die rasiermesserscharfen Fingernägel des Scriptors noch tiefer in ihr Fleisch gruben und der Schmerz ihr schon wieder die Tränen in die Augen schießen ließ.
Plötzlich erscholl über ihr ein wütendes Knurren. Leonie sah einen verschwommenen Schemen in einem zerfetzten schwarzen Mantel über sich hinwegspringen, den Scriptor packen und ohne die geringste Mühe in die Tiefe schleudern; dann wirbelte Maus herum, riss sie grob am Arm in die Höhe und schleifte sie so unsanft hinter sich her, dass sie sich zu allem Überfluss auch noch die Schienbeine aufschürfte. Dennoch erreichten sie auf diese Weise binnen weniger Augenblicke die rettende Tür, und Maus stieß sie so derb weiter, dass sie hindurchstolperte und nach zwei ungeschickt taumelnden Schritten auf die Knie fiel. Diesmal war der Schmerz so schlimm, dass ihr übel wurde.
Leonie sank kraftlos nach vorne und konnte nur noch mit Mühe verhindern, dass sie gänzlich stürzte. Alles drehte sich um sie, und ihre Knie fühlten sich an, als hätte sie jemand mit einem Vorschlaghammer behandelt. Wie durch einen dämpfenden Nebel hindurch hörte sie, dass Maus hinter ihr die Tür zuwarf und mit fliegenden Fingern den Riegel vorlegte, und gleichzeitig sagte Maus vor ihr: »Leonie! Ist alles in Ordnung?«
»Schon gut«, murmelte sie benommen. »Hauptsache, ich...« Sie stockte. Für die Dauer eines einzelnen schweren Herzschlags blinzelte sie verständnislos in Maus’ Gesicht, das durch den Schleier ihrer Tränen immer wieder auseinander zu fließen schien, dann drehte sie mit einem Ruck den Kopf und starrte die kleine, in einen zerfetzten schwarzen Kapuzenmantel gehüllte Gestalt an, die gerade damit beschäftigt war, mit sichtbarer Mühe einen überdimensionalen Riegel vor die Tür zu wuchten, durch die sie gerade gestolpert waren. Aber wie konnte Maus gleichzeitig den Riegel vorlegen und hier stehen und sie fragen, wie sie sich fühlte?
Maus - der Maus, der an der Tür stand - drehte sich um und Leonie kannte die Antwort auf ihre Frage: Maus war nicht Maus.
Das Gesicht, das unter der zerknitterten schwarzen Kapuze zum Vorschein kam, gehörte einem Scriptor.
Leonie fiel in Ohnmacht.
In die Enge getrieben
Jemand schlug ihr sanft (wenn auch nicht annähernd so sanft, wie für Leonies Geschmack angemessen gewesen wäre) und abwechselnd rechts und links ins Gesicht um sie aufzuwecken. Noch bevor sie den zweiten oder dritten Schlag richtig registrierte, wurde ihr irgendwie klar, dass sie nur wenige Augenblicke bewusstlos gewesen sein konnte, und noch bevor sie mühsam blinzelnd die Augen öffnete, wurde ihr die ganze Geschichte unvorstellbar peinlich. War sie wirklich wie eine hysterische Jungfer in Ohnmacht gefallen, nur weil sie einen...