... Scriptor gesehen hatte?
Leonie setzte sich so abrupt auf, dass ihr prompt schwindelig wurde und sie wahrscheinlich sofort wieder auf die Nase gefallen wäre, hätte Maus, der vor ihr auf den Knien hockte, sie nicht gedankenschnell aufgefangen.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er hastig. »Keine Angst!«
»Alles in Ordnung?«, keuchte Leonie. »Aber das... das da... das da ist... das da ist ein...« Sie atmete keuchend ein. »Das da ist ein Scriptor!«, stieß sie schließlich hervor.
»Scharf beobachtet, dumme Kuh«, giftete der Scriptor. Er stand mit vor der Brust verschränkten Armen vor der Tür, die er gerade zugeworfen hatte, und funkelte sie zornig an. »Soll ich mich jetzt geehrt fühlen, dass du mich wiedererkannt hast?«
Es dauerte einen Moment, bis Leonie diesen Worten überhaupt einen Sinn abgewinnen konnte. Aber dann nahm sie das hässliche Greisengesicht des Scriptors noch einmal und genauer in Augenschein, und tatsächlich: Etwas daran kam ihr vage bekannt vor.
»Du?«, murmelte sie zweifelnd.
Der Scriptor zog eine Grimasse. »Das ist zwar nicht unbedingt mein Name, aber ich glaube, ich weiß, was du meinst. Ja, ja, ich bin es.« Er zog wieder eine Grimasse. »Weiber!«
Leonie machte sich umständlich aus Maus’ Armen los und setzte sich weiter auf. Irritiert blickte sie abwechselnd von Maus zu dem Scriptor und wieder zurück. »Was geht denn hier vor?«, fragte sie hilflos.
»Nichts, was dir Angst machen müsste«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Es ist alles in Ordnung.«
Leonie drehte sich überrascht um und hätte um ein Haar entsetzt aufgeschrien, und Wohlgemut fuhr mit einem angedeuteten Lächeln, aber ansonsten vollkommen ungerührt fort: »Aber ich schlage vor, dass wir das an einem anderen Ort besprechen. Diese Tür sieht zwar recht stabil aus, aber ich weiß trotzdem nicht, wie lange sie standhalten wird.«
Leonie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. »Was... geht hier vor?«, ächzte sie.
»Der Professor hat Recht«, sagte Maus. »Wir müssen hier weg!«
Leonie starrte abwechselnd ihn, Maus, den Scriptor und Professor Wohlgemut verständnislos an, und dann drehte sie sich weiter um und zweifelte nun vollends an ihrem Verstand, denn am anderen Ende des großen Raumes gewahrte sie niemand anderen als ihre Großmutter, die auf dem Boden saß und mit zwei alten Männern mit Brille und schütterem, trotzdem aber zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebundenen Haar sprach. Doktor Fröhlich und Vater Gutfried.
Also gut, dachte sie. Dann war es eben so. Sie war tot und in der Hölle oder - schlimmer noch - endgültig übergeschnappt und in der Klapsmühle.
»Was... bedeutet das?«, murmelte sie.
»Das sind deine Verbündeten«, sagte Maus mit einer erklärenden Geste. Leonie ächzte und Maus fügte im gleichen Tonfall hinzu: »Die einzigen, die du noch hast, fürchte ich.«
Nein, dachte Leonie, sie war weder tot noch meschugge, sondern im allerübelsten aller nur vorstellbaren üblen Träume gefangen.
»Aha«, sagte sie.
Irgendetwas schlug mit einem so dumpfen Krachen gegen die Tür, dass der Scriptor einen erschrockenen Satz machte und um ein Haar auf die Nase gefallen wäre. Großmutter und Fröhlich unterbrachen alarmiert ihr Gespräch, und Vater Gutfried stand hastig auf und sagte: »Ich glaube, ich hole besser den Wagen.«
Er ging. Großmutter stand mit Fröhlichs Hilfe auf und kam mit mühsamen kleinen Schritten näher. »Komm, Leonie. Der Professor hat Recht. Die Tür wird nicht ewig halten. Und wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
»Aha«, sagte Leonie abermals. Es war nach wie vor das Geistreichste, was ihr einfiel. Sie verstand nichts mehr.
Maus half ihr auf die Beine zu kommen, während der Scriptor in zwei oder drei Schritten Entfernung dastand und sie feindselig anstarrte. »Was soll denn das heißen, meine einzigen Verbündeten?«, fragte Leonie.
Maus wollte antworten, aber Großmutter kam ihm zuvor. »Dein kleiner Freund hat mit Wohlgemut und den anderen gesprochen«, erklärte sie. »Komm.«
»Gesprochen? Worüber?«
»Über dich. Und Meister Bernhard.« Großmutter wollte fortfahren, doch in diesem Moment erzitterte die Tür unter einem Schlag, der das Holz knirschen ließ. Staub rieselte zwischen den massiven Balken hervor, und selbst die metallenen Beschläge ächzten hörbar. Großmutter warf einen erschrockenen Blick auf die Tür und drehte sich dann hastig um, und auch Leonie und die anderen beeilten sich ihr zu folgen.
Die Tür erzitterte unter einem weiteren, noch härteren Schlag, als sie den Ausgang fast erreicht hatten. Leonie dachte vorsichtshalber nicht darüber nach, was da von der anderen Seite gegen sie hämmerte - aber ein Scriptor war es auf keinen Fall. Und erst Recht kein Schusterjunge.
Erst als sie durch die Tür traten, erkannte Leonie ihre Umgebung wieder: Sie fanden sich unvermittelt in einem weitläufigen, düsteren Gewölbekeller wieder, der zum Großteil von schweren Eichentischen und den dazugehörigen Stühlen ausgefüllt wurde. Auf der linken Seite stand eine kompliziert aussehende, grobschlächtige Konstruktion, die Leonie erst auf den zweiten Blick als altertümliche Druckerpresse erkannte. Die Wand dahinter wurde von einem deckenhohen Regal voller schwerer ledergebundener Bücher eingenommen. Sie befanden sich im Speisesaal des Burgkellers, des Lokales, in dem sie damals das Ritteressen eingenommen hatten.
Und in dem sie Maus, Meister Bernhard und die anderen zum ersten Mal gesehen hatte.
Jemand versetzte ihr einen unsanften Stoß in den Rücken, der sie nicht nur zwei Schritte nach vorne stolpern ließ, sondern auch ziemlich unsanft wieder in die Wirklichkeit zurückriss. Verärgert fuhr sie herum und schluckte die scharfe Bemerkung hinunter, die ihr auf der Zunge lag, als sie in die wässrig funkelnden Augen des Scriptors blickte, der nur darauf zu warten schien, dass sie irgendetwas sagte, was er zum Anlass nehmen konnte, sie zu beschimpfen oder gleich einen Streit vom Zaun zu brechen.
Stattdessen nutzte sie die Gelegenheit, das dürre Geschöpf noch einmal und etwas genauer in Augenschein zu nehmen.
Auch wenn sich der für Logik zuständige Teil ihres Verstandes noch immer weigerte, die bloße Möglichkeit anzuerkennen, sagte ihr doch ihr Gefühl, dass es sich genau um den Scriptor handelte, der ihren Eltern und ihr damals zur Flucht verholfen hatte. Aber wie war das nur möglich?
Sichtlich enttäuscht, dass sie ihm keine Gelegenheit gab, sie mit wüsten Beschimpfungen zu überschütten, drehte sich der Scriptor um und knallte die Tür hinter sich zu. Nur den Bruchteil einer Sekunde darauf erscholl aus dem Raum dahinter ein zweiter, viel lauterer Schlag wie ein bizarres Echo. Leonie war jetzt fast sicher, das Splittern von Holz zu vernehmen.
Sie war nicht die Einzige, die das Geräusch gehört hatte. Auch ihre Großmutter warf einen nervösen Blick über die Schulter zurück, und Maus sagte leise: »Wir sollten uns lieber beeilen.«
Nicht, dass diese Aufforderung noch nötig gewesen wäre. Sowohl der Professor als auch Fröhlich beschleunigten ihre Schritte so sehr, wie sie konnten, und zweifellos wären sie sogar gerannt, hätten sie nicht Rücksicht auf Großmutter nehmen müssen, der es sichtlich immer schwerer fiel, überhaupt noch einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Die Treppe nach oben hätte sie um ein Haar nicht geschafft. Mehr von Wohlgemut und Fröhlich getragen als aus eigener Kraft, erreichte sie den oberen Schankraum, der ebenso leer und auf fast unheimliche Weise verlassen war wie der große Rittersaal im Keller.
Erneut fiel Leonie auf, wie ähnlich sich die beiden alten Männer trotz aller äußerlichen Unterschiede waren - und das bezog sich nicht nur auf die alberne Frisur und ihr sichtbar fortgeschrittenes Alter. Vielmehr hätten sie - und das schloss auch Vater Gutfried mit ein, den Dritten im Bunde - ohne weiteres Brüder sein können. Die Macht des Archivars mochte durchaus groß genug sein um Leben zu erschaffen, aber seine Fantasie war eher bescheiden, wenn es um die Erschaffung seines Hilfspersonals ging. Denn immerhin waren die drei hochbetagten Männer ja nichts weiter als seine Kreaturen, und dass sie sich wie Meister Bernhard nun gegen ihn wandten, zeugte zwar von einer Schwäche des Archivars - der die menschliche Seele wohl doch nicht so gut verstand, wie er geglaubt hatte -, aber ihre Existenz zeigte auch, wie langfristig und voller Boshaftigkeit er seinen Plan verfolgt hatte.