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»Ich könnte ihn ablenken«, schlug Leonie vor. »Er ist bestimmt nicht sehr schnell. Mit ein bisschen Glück schaffen Sie es bis zur Tür, ehe er Sie überhaupt bemerkt.«

Sie war nicht sicher, ob Fröhlich ihre Worte überhaupt gehört hatte. Sein Blick tastete immer noch über die holzverkleidete Decke, und auf seinem Gesicht war ein sehr nachdenklicher Ausdruck erschienen. Leonie hätte eine Menge darum gegeben, zu wissen, worüber er in diesem Moment nachdachte, aber sie hatte zugleich auch das sichere Gefühl, dass es ihr nicht gefallen würde.

Der Aufseher schwang seine Keule und Fröhlich zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern, als ein wahrer Sprühregen aus Holzsplittern und Sägemehl auf sie herabregnete. »Ablenken, ja«, murmelte er. »Das ist... eine ausgezeichnete Idee.«

Leonie wollte sich aus der Hocke erheben, aber Fröhlich legte ihr rasch die Hand auf den Unterarm und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich werde ihn ablenken und du wirst zu deiner Großmutter gehen.«

Keine zwei Meter hinter ihnen zersplitterte der Rest der Einrichtung unter einem gewaltigen Keulenhieb, und sie musste sich nicht umdrehen um zu wissen, dass ihr unheimlicher Verfolger wie eine lebendige Lawine aus Muskeln und stacheligem schwarzem Eisen heranwalzte. Dennoch zögerte sie. »Und Sie?«, fragte sie.

»Ich halte ihn auf«, antwortete Fröhlich.

»Sie«, keuchte Leonie. »Dieses Ungeheuer? Aber... aber wie denn?«

Fröhlich lächelte nervös, nahm seine altmodische Brille ab und klappte sie umständlich zusammen. Fast noch umständlicher verstaute er sie in der Brusttasche seines zweireihigen Anzuges, ehe er antwortete: »Du vergisst anscheinend, dass ich Rechtsanwalt bin, junge Dame. Und wenn ein Mann meines Schlages etwas wirklich gelernt hat, dann jemanden hinzuhalten.« Er atmete hörbar ein. Es war schwer, bei der herrschenden Dunkelheit hier drinnen irgendeine Regung auf seinem Gesicht zu erkennen, aber Leonie glaubte einen neuen Ausdruck in seiner Stimme zu vernehmen. Da war eindeutig Angst, aber auch noch etwas anderes, was ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ.

»Und nun geh«, sagte er. »Hilf deiner Großmutter. Noch ist es nicht zu spät.« Abermals atmete er tief ein, dann räusperte er sich, straffte die Schultern und stand auf. Umständlich trat er hinter der zerstörten Theke hervor und auf den Aufseher zu.

Das Ungeheuer war mittlerweile bis auf zwei Schritte herangekommen und hob gerade sein gewaltiges eisernes Schlagwerkzeug, um das letzte Hindernis aus dem Weg zu fegen.

»Entschuldigung«, sagte Fröhlich.

Der Aufseher erstarrte mitten in der Bewegung. Die buschigen Augenbrauen unter dem schwarzen Eisenhelm zogen sich fragend zusammen, während ihr Besitzer mit sichtlicher Verwirrung auf das winzige Menschlein herabstarrte, das nicht nur die Unverschämtheit besaß, ihm den Weg zu vertreten, sondern noch nicht einmal Angst zeigte.

»Es geht mich zwar nichts an«, fuhr Fröhlich nach einem neuerlichen gekünstelten Räuspern fort, »aber ich möchte Sie dennoch daraufhinweisen, dass das, was Sie da gerade tun, ganz eindeutig eine vorsätzliche Sachbeschädigung darstellt.«

Der Ausdruck von Verwirrung in den winzigen Äuglein des Aufsehers wuchs ins Grenzenlose. Fröhlich machte einen unauffälligen halben Schritt zur Seite und winkte Leonie zugleich mit der linken Hand verstohlen zu. Leonie begann auch gehorsam loszukriechen, aber sie bewegte sich nur sehr langsam. Noch stand der titanische Aufseher viel zu nahe bei der Tür, als dass sie es wagen konnte, einfach loszustürmen. Das Monstrum war möglicherweise nicht sehr schnell, aber groß. Selbst von dort aus, wo er stand, brauchte er nur den Arm auszustrecken, um mit seiner Keule mühelos die Tür zu erreichen.

Fröhlich bewegte sich zwei weitere Schritte nach links. Der Aufseher stand mit misstrauisch zusammengekniffenen Augen und wiegenden Armen da. Die Stachelkeule in seiner rechten Hand bewegte sich hin und her wie das Pendel einer bizarren höllischen Standuhr, wobei die fast fingerlangen eisernen Stacheln tiefe Furchen in den Fußboden rissen. »Ihnen ist doch hoffentlich klar, dass Sie für den angerichteten Schaden in vollem Umgang haftbar sind«, fuhr Fröhlich fort.

Der Aufseher machte einen halben Schritt, unter dem das gesamte Haus zu erzittern schien, um Fröhlich den Weg zu versperren, und Fröhlich vollzog die Bewegung getreulich nach. »Und ich rede hier nicht allein von dem angerichteten materiellen Schaden«, fügte er hinzu.

Der Aufseher hob seine Keule, und Fröhlich machte einen weiteren, diesmal sehr raschen Schritt, der die Distanz zwischen ihm und dem gepanzerten Koloss auf gute zwei Meter vergrößerte. Gleichzeitig wiederholte er sein verstohlenes Winken in Leonies Richtung, endlich zu verschwinden.

»Viel größer dürfte der nachfolgende Schaden sein, für den Sie der Besitzer dieses Etablissements ganz zweifellos - und zwar in vollem Umfang - regresspflichtig machen wird«, meinte Fröhlich. »Allein der Verdienstausfall dürfte ein erkleckliches Sümmchen ergeben, und dazu kommt noch...«

Der Aufseher schwang mit einem wütenden Knurren seine Keule, und Leonie war vollkommen sicher, dass sie Fröhlich treffen und auf der Stelle zerschmettern müsste, aber der greise Anwalt überraschte sie ein weiteres Mal. Mit einer fast tänzerisch anmutenden Bewegung wich er dem Hieb aus und machte gleichzeitig zwei, drei Schritte zurück und zur Seite. Die Keule pfiff harmlos vor ihm durch die Luft, und Fröhlich wäre zweifellos noch weiter zurückgewichen, wäre er nicht mit dem Rücken gegen einen der mächtigen Eichenbalken gestoßen, die die Decke stützten.

»Und dazu kommt noch mein Honorar, das nicht unwesentlich ist«, fuhr er fort, »sowie die Gerichtskosten. Ich würde Ihnen also wirklich dringend anraten...«

Der Aufseher schwang mit einem zornigen Brüllen seine Keule, aber wieder zog Fröhlich im letzten Moment den Kopf ein, sodass der mörderische Hieb sein Ziel verfehlte und stattdessen den Stützbalken abrasierte.

Fröhlich brachte sich mit einem hastigen Sprung in Sicherheit, als Holztrümmer und sogar ein Teil der Decke niederregneten, und Leonie nutzte den Lärm, um hastig ein gutes Stück weiter in Richtung Tür zu kriechen. Noch wagte sie es nicht, aufzuspringen und einfach loszurennen, aber Fröhlich hatte sich bereits wieder gefangen und lockte den Aufseher rückwärts gehend tiefer in den verwüsteten Raum hinein. Nur noch ein Augenblick und der Weg nach draußen war frei.

»Aber ich bitte Sie!«, keuchte Fröhlich. »Gewalt ist noch nie eine Lösung gewesen. Sie machen doch alles nur noch schlimmer!«

Der Aufseher schwang brüllend seine Keule. Wieder entging Fröhlich dem Hieb mit einer Leichtfüßigkeit, die Leonie bei einem Mann seines Alters nie und nimmer erwartet hätte, und näherte sich dabei gleichzeitig einem weiteren Stützbalken.

Auch Leonie kroch auf Händen und Knien weiter. Sie hatte das Ende der zerstörten Theke erreicht, und zwischen ihr und dem rettenden Ausgang lagen jetzt nur noch wenige Schritte.

Dennoch riskierte sie es noch nicht aufzuspringen und zu fliehen, sondern sah noch einmal mit klopfendem Herzen zu Fröhlich und dem Aufseher zurück. Der gepanzerte Koloss näherte sich dem alten Notar mit wiegenden Schritten und hackte ab und zu mit seiner Keule nach ihm, aber Fröhlich wich den Hieben immer wieder im letzten Moment aus, bis er mit dem Rücken gegen den Stützbalken stieß.

»Ihr grobes Verhalten könnte übrigens durchaus ein weiteres Strafverfahren nach sich ziehen«, keuchte Fröhlich. Sein Atem ging jetzt schwer und seine Stimme zitterte. Dennoch wich er auch dem nächsten Hieb mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit aus, und er war sogar schon gute zwei Schritte entfernt, als die Stachelkeule den Balken kappte und Holzsplitter und Steine und Putz dort niedergingen, wo er gerade noch gestanden hatte.

Ein schweres machtvolles Zittern lief durch das Haus. Leonie hörte ein unheimliches, mahlendes Knirschen, und trotz der Dunkelheit glaubte sie zu sehen, wie sich die gesamte Decke durchbog, wie eine Zeltplane, auf der sich Regenwasser sammelte.