»Sie machen alles nur noch schlimmer, so glauben Sie mir doch!«, ächzte Fröhlich. Er sprang zur Seite, um der heranzischenden Keule auszuweichen, und näherte sich im Zickzack dem nächsten Balken. »Vorsätzliche Körperverletzung ist kein Kavaliersdelikt, seien Sie dessen versichert!«
Wieder verfehlte ihn die Keule nur um Haaresbreite, und Leonie nahm allen Mut zusammen, richtete sich hinter ihrer Deckung auf und war mit drei, vier schnellen Schritten an der Tür, genau in dem Moment, in dem der Aufseher den höchsten Stützpfeiler kappte und Fröhlich mit einem entsetzten Hüpfer zur Seite sprang.
Diesmal erbebte das ganze Haus. Leonie spürte, wie sich der Fußboden unter ihr ein deutliches Stück senkte, und für einen Moment schien eine träge, wellenförmige Bewegung durch die Decke zu laufen. Überall regneten jetzt Staub und Teile der hölzernen Deckenverkleidung nieder, und das unheimliche Ächzen und Knirschen, das sie schon einmal gehört hatte, hob wieder an, ohne diesmal jedoch wieder aufzuhören. Es wurde ganz eindeutig Zeit, das Haus zu verlassen.
Stattdessen blieb sie aber unter der Tür noch einmal stehen und sah zu Fröhlich und dem Aufseher zurück. Es überraschte sie nicht einmal besonders, dass Fröhlich gezielt einen weiteren Pfeiler ansteuerte, während der Aufseher ihm knurrend und keulenschwingend folgte.
Aber sie sah auch noch etwas.
Die Tür, durch die sie hereingekommen waren, war nicht mehr leer. Eine hoch gewachsene, schlanke Gestalt in einem schwarzen Kapuzenmantel war unter der Öffnung erschienen, und Leonie musste das Gesicht unter der Kapuze nicht erkennen um zu wissen, um wen es sich bei der düsteren Erscheinung handelte.
Der Archivar selbst war gekommen um sie zu holen.
»Fröhlich!«, schrie sie.
Der alte Notar ignorierte sie ebenso wie sein in Stacheln gepanzerter Gegner. Er hatte den vierten und somit vorletzten Stützbalken erreicht und sah den Aufseher mit einem Ausdruck perfekt gespielten Bedauerns im Gesicht an. »Ich muss Sie noch einmal dringend auf die möglichen Konsequenzen Ihres ungebührlichen Verhaltens aufmerksam machen. Was Sie da tun, ist zumindest grober Unfug, wenn nicht mehr.«
Der Aufseher brüllte vor Wut und schwang seine Keule, und gleichzeitig machte der Archivar auf der anderen Seite des Raumes eine erschrockene Handbewegung.
Aber er war zu spät.
Fröhlich duckte sich und sprang mit einer schnellen Bewegung zur Seite, und die Keule knickte den dreißig Zentimeter durchmessenden Eichenbalken so mühelos, wie Leonie ein Streichholz zwischen Daumen und Zeigefinger zerbrochen hätte.
Sie wartete nicht ab, was weiter geschah, sondern warf sich mit einer einzigen Bewegung herum und stürmte aus dem Haus.
Auf der schmalen Gasse vor dem Burgkeller war eine altmodische, zweispännige Kutsche vorgefahren. Wie schon einmal saß Vater Gutfried oben auf dem Bock, doch dieses Mal war er nicht allein. Vielmehr gewahrte Leonie Professor Wohlgemut neben ihm, und auf dem Dach der Kutsche hatten sich zwei weitere, deutlich kleinere Schatten zusammengekauert.
Ein berstender Schlag wehte aus dem Haus hinter ihr heraus. Leonie fuhr erschrocken zusammen und war mit einem einzigen Satz bei der offen stehenden Tür des altertümlichen Gefährts. Das Dröhnen und Splittern aus dem Haus hielt nicht nur an, sondern nahm ganz im Gegenteil noch weiter zu.
Genau in dem Moment, in dem sich Leonie durch die offen stehende Tür warf, explodierten sämtliche Fensterscheiben des Gebäudes. Millionen winziger Glassplitter überschütteten die Straße wie kleine, gefährliche Geschosse, schlugen Funken auf dem Kopfsteinpflaster und hämmerten in das Holz der Kutsche. Die Pferde schrien gepeinigt auf, irgendetwas zerschlitzte das lederne Polster unmittelbar neben ihr mit einem ekelhaften Laut, der an das Geräusch eines Rasiermessers erinnerte, das durch Fleisch glitt, und dann schrie auch sie gequält auf, als zwei oder drei der heimtückischen kleinen Geschosse in ihre nackten Beine bissen.
Großmutter beugte sich trotz des anhaltenden Trommelfeuers gläserner Wurfgeschosse vor und knallte die Tür zu, und im gleichen Moment setzte sich die Kutsche mit einem Ruck in Bewegung, der Leonie endgültig von der Bank schleuderte.
Hastig rappelte sie sich auf und fuhr zum Fenster herum. Das gesamte Gebäude war mittlerweile in einer Wolke aus Staub und fliegenden Trümmern gehüllt, die sich rasend schnell auf der ganzen Straße ausbreitete. Dennoch sah Leonie, wie sich das Gasthaus allmählich nach vorne zu neigen begann. Die Wände des Erdgeschosses beulten sich aus, als hätten sie plötzlich nicht mehr die Kraft, das Gewicht der auf ihr lastenden Stockwerke zu tragen, dann brach das ganze Haus in einer gewaltigen Implosion aus Staub und fliegenden Trümmern zusammen.
Leonie ließ sich mit einem erschöpften Laut auf den Sitz zurücksinken. Ihr Herz hämmerte wie verrückt und sie zitterte am ganzen Leib. Die Schnittwunden in ihrem Bein taten entsetzlich weh.
»Fröhlich?«, fragte Großmutter leise. Auch sie schien mindestens einen der gefährlichen Glassplitter abbekommen zu haben, denn sie presste die linke Hand gegen die Wange. Ein dünnes Rinnsal aus hellrotem Blut sickerte zwischen ihren Fingern hervor.
»Ja.« Leonie nickte traurig »Warum hat er das getan?«
Es dauerte eine Weile, bis ihre Großmutter antwortete. »Vielleicht aus demselben Grund, aus dem Meister Bernhard sein Leben geopfert hat um uns zu retten. Und aus dem uns die anderen helfen.«
»Wohlgemut und Vater Gutfried?«
»Ja.«
»Aber sie sind Geschöpfe des Archivars!«, murmelte Leonie verständnislos. »Er hat sie erschaffen! Wieso stellen sie sich jetzt gegen ihn?«
»Vielleicht weil es die einzige Möglichkeit für sie ist, ihrem Leben einen Sinn zu geben«, antwortete Großmutter leise. Sie seufzte tief, zog ein spitzenbesetztes Taschentuch hervor und begann das Blut von ihrer Wange zu tupfen. Leonie sah, dass die Wunde weit tiefer war, als sie bisher angenommen hatte, aber Großmutter gab nicht den geringsten Laut der Klage von sich, und auch sie sagte nichts dazu, sondern beugte sich wieder zur Seite und sah aus dem Fenster.
Das zusammengebrochene Gasthaus war mittlerweile nicht mehr zu sehen. Die Kutsche rumpelte in halsbrecherischem Tempo über das ausgefahrene Kopfsteinpflaster der Altstadt und wurde immer noch schneller.
»Wohin fahren wir?«, fragte sie.
Großmutter tupfte weiter über die heftig blutende Wunde in ihrem Gesicht und hob mit einem neuerlichen Seufzen die Schultern. »Nach Hause.« Sie klang mutlos. »Vielleicht haben wir noch eine winzige Chance. Auch wenn ich nicht wirklich daran glaube.«
»Fröhlich hat gesagt, es wäre noch nicht zu spät«, sagte Leonie leise.
Sie wartete vergeblich darauf, dass Großmutter antwortete. Schließlich beugte sie sich wieder zur Seite und sah aus dem Fenster. Die Kutsche hatte die schmalen Straßen der Altstadt mittlerweile verlassen und beschleunigte immer noch, sodass die Häuser beiderseits der Straße zu ineinander fließenden grauen Schemen zu werden schienen. Irgendetwas stimmte nicht damit, fand Leonie, ebenso wenig wie mit der Straße selbst, über die die Kutsche stetig schneller werdend jagte. Aber Leonie war im Moment nicht in der Verfassung, darüber nachzudenken.
Sie sah wieder nach hinten - und fuhr erschrocken zusammen. Sehr weit hinter ihnen, aber dennoch deutlich zu erkennen, war eine schwarze Gestalt in einem Kapuzenmantel erschienen. Der Anblick war beinahe grotesk, aber er ließ Leonie dennoch für einen Moment vor Furcht erstarren. Der Archivar schritt gemächlich aus ohne zu rennen oder auch nur schnell zu gehen, und dennoch wurde der Abstand zwischen ihm und der dahinpreschenden Kutsche langsam, aber unerbittlich kleiner.
»Er kommt näher, habe ich Recht?«, fragte Großmutter leise.