Выбрать главу

Leonie nickte. »Können wir ihm entkommen?«

»Nein«, antwortete Großmutter. »Niemand kann einem Geschöpf entkommen, das die Realität beherrscht. Aber vielleicht...« Sie brach ab und presste die Lippen aufeinander.

»Vielleicht?«, hakte Leonie nach.

»Das Buch«, antwortete Großmutter schleppend. »Es ist immer noch im Safe deines Vaters eingeschlossen.«

»Dein Buch?«, vergewisserte sich Leonie. Großmutter nickte, aber es fiel Leonie reichlich schwer, das zu glauben. »Aber wieso lässt er etwas von so ungeheurem Wert einfach zurück?«, fragte sie zweifelnd.

»Weil er es nicht braucht«, antwortete Großmutter. »Er hat jetzt die Macht über das ganze Archiv. Welche Rolle spielt da ein einziges Leben?«

Leonie wollte widersprechen, aber ihre Großmutter unterbrach sie mit einer raschen, zugleich aber auch sonderbar mutlosen Geste. Sie schüttelte traurig den Kopf. »Sieh aus dem Fenster, Leonie«, sagte sie.

Leonie sah ihre Großmutter eine halbe Sekunde lang einfach nur verständnislos an, aber dann drehte sie sich gehorsam auf dem Sitz um und kam ihrem Wunsch nach.

Im ersten Moment konnte sie auch jetzt kaum mehr als vorbeijagende Schatten erkennen, aber dann sah sie, was ihre Großmutter meinte. Die Straße, über die die Kutsche ratterte, kam ihr durchaus bekannt vor, und trotzdem hatte sie fast keine Ähnlichkeit mehr mit der Stadt, in der sie geboren und aufgewachsen war.

Die Häuser waren alt und trist; monotone, gleichförmige Ziegelsteinbauten mit winzigen schmutzstarrenden Fenstern und eingesunkenen Dächern. Überquellende Mülltonnen flankierten die schmalen Türen und hier und da schlurfte eine zerlumpte Gestalt mit hängenden Schultern und grauem Gesicht den Gehsteig entlang. Eine fast greifbare Atmosphäre von Furcht und Niedergeschlagenheit lag über der Szenerie. Nirgends war ein Auto zu sehen, oder auch nur ein Fahrrad. Selbst die wenigen Bäume, an denen sie vorüberkamen, wirkten farblos und blass, und noch während Leonie hinsah, begann sich das Bild weiter zu verändern: Schwarze, schmutzige Wolkenbänke schoben sich über den Himmel und begannen den Mond und die Sterne zu verschlingen, und hinter den monotonen Häuserzeilen wuchsen ganze Wälder voll rauchender Schlote in die Höhe, die noch mehr schwarzen Qualm in die Luft spien. Plötzlich waren die Bürgersteige doch voller Menschen: ausgemergelten, in Lumpen gehüllten Reihen graugesichtiger Männer und Frauen, die sich mit hängenden Köpfen dahinschleppten. Etwas in Leonie schien sich bei diesem Anblick zu einem eisigen Ball zusammenzuziehen, an dem sie zu ersticken meinte.

»Aber das...«, krächzte sie. »Das ist...«

»... die Welt, die der Archivar erschaffen hat«, führte Großmutter den Satz zu Ende, als Leonies Stimme versagte.

»Aber das ist die Hölle!«, keuchte Leonie. So entsetzlich der Anblick auch sein mochte, war es ihr doch zugleich auch unmöglich, den Blick davon loszureißen. »Warum... warum tut er das?«

»Weil ihm menschliche Gefühle und Empfindungen fremd sind«, antwortete Großmutter. »Die Menschen gehen zur Arbeit, essen und schlafen und gehen wieder zur Arbeit, und das ist alles, was zählt. Sie funktionieren.«

»Wie Maschinen«, murmelte Leonie.

Wieder nickte Großmutter. Leonie spürte die Bewegung nur, denn der schreckliche Anblick schlug sie noch immer vollkommen in seinen Bann. »Beinahe wie in Orwells 1984. Nur schlimmer. Ich frage mich, ob er vielleicht einen Blick in die Zukunft getan hat, ohne es selbst zu wissen.«

»Nein! Das darf nicht sein«, murmelte Leonie. »So... so darf es nicht enden!«

Plötzlich konnte sie nur noch mit Mühe die Tränen zurückhalten. Vielleicht einzig, damit ihre Großmutter das feuchte Schimmern in ihren Augen nicht sah, drehte sie den Kopf hastig in die andere Richtung.

Der Archivar war näher gekommen. Obwohl nur wenige Augenblicke vergangen waren, seit sie das letzte Mal zu ihm zurückgeblickt hatte, war die Distanz zwischen der unheimlichen Gestalt und der Kutsche auf weniger als die Hälfte zusammengeschmolzen. Leonie schätzte, dass ihnen nur noch vier oder fünf Minuten blieben, bis er sie eingeholt hatte. Hinter dem Archivar tobte eine ganze Armee düsterer Schatten heran, die nicht genau zu erkennen waren, so als versuche die Finsternis selbst Gestalt anzunehmen. Leonie wusste jedoch nur zu gut, woraus diese Woge heranrasender Schwärze bestand: Es waren die Heerscharen des Archivars, die ihrem finsteren Herrn auf dem Fuß folgten, um...

Ja, dachte Leonie. Warum eigentlich?

Sie sprach den Gedanken laut aus. »Er muss einen Grund haben, uns zu verfolgen«, murmelte sie nachdenklich. Ihre Großmutter sah sie nur fragend an, und Leonie fuhr aufgeregt fort: »Er würde uns bestimmt nicht mit all seinen Kriegern verfolgen, wenn wir ihm nicht gefährlich werden könnten!«

Ein nachdenklicher Ausdruck erschien auf Großmutters Gesicht. Sie sagte nichts.

»Das Buch in Vaters Safe«, fuhr Leonie aufgeregt fort. Ihre Gedanken überschlugen sich schier. »Es ist das einzige, das sich nicht im Archiv befindet, habe ich Recht?«

»Ja«, murmelte Großmutter. »Aber es ist doch nur ein...«

»Es ist dein Buch«, unterbrach sie Leonie.

Großmutters Augen wurden groß. »Und ich war es, die ihm diese Verschwörung überhaupt erst ermöglicht hat«, fügte sie hinzu. »Natürlich! Deshalb will er um jeden Preis verhindern, dass...« Sie brach mitten im Wort ab, sprang auf und beugte sich aus dem Fenster, so weit sie konnte. »Gutfried!«, schrie sie. »Fahren Sie schneller! Jede Sekunde zählt!«

Tatsächlich hörte Leonie das Knallen einer Peitsche, und noch bevor ihre Großmutter sich wieder ganz setzen konnte, beschleunigte der Wagen mit einem plötzlichen Ruck noch einmal, sodass sie reichlich unsanft in die Polster zurückgeworfen wurde.

Vollkommen unbeeindruckt davon und mittlerweile mindestens genauso aufgeregt wie Leonie fuhr sie fort: »Ich kann ihn aufhalten, verstehst du? Ich muss nur zurück bis zu jenem Tag, an dem ich ihn das erste Mal besiegt habe, und dafür sorgen, dass ich niemals vergesse, wie gefährlich er ist! Ich kann alles ungeschehen machen!«

»Das würde bedeuten, dass du dein ganzes Leben umschreiben musst«, sagte Leonie ernst, aber Großmutter fegte ihre Worte mit einer unwilligen Handbewegung zur Seite. »Nein. Es gibt einen Punkt, an dem ich angefangen habe leichtsinnig zu sein. Es ist lange her, viele, viele Jahre, bevor du überhaupt auf die Welt gekommen bist, Leonie. Aber ich kann mich noch genau erinnern. Ich weiß, was ich zu tun habe!«

Das Fenster wurde aufgerissen, und Maus, der offensichtlich bäuchlings auf dem Dach lag, streckte den Kopf herein. »Wir sind gleich da«, verkündete er aufgeregt. »Aber viel Zeit bleibt uns nicht. Was immer Sie vorhaben, es sollte besser schnell gehen.«

»Das wird es«, versicherte Großmutter. »Ich weiß genau, was ich tun muss.« Sie maß Maus dabei mit einem so sonderbaren Blick und einem so warmen Lächeln, dass Leonie sich verwirrt fragte, ob sie vielleicht irgendetwas nicht mitbekommen hatte.

Die Kutsche wurde tatsächlich noch einmal schneller, sodass Leonie nicht mehr dazu kam, ihrer Großmutter eine entsprechende Frage zu stellen, sondern für die nächsten Minuten voll und ganz damit beschäftigt war, sich irgendwo festzuklammern, um nicht von der wild hin und her schaukelnden Bank geschleudert zu werden.

Gottlob dauerte die wilde Jagd jedoch nicht mehr lange. Es vergingen nur noch wenige Minuten, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Die Gebäude, an denen sie vorüberrasten, begannen allmählich kleiner zu werden und, soweit das überhaupt möglich war, sogar noch schäbiger. Dennoch erkannte Leonie endlich die Straße wieder, in der ihr Elternhaus lag - auch wenn sie wie die ganze Stadt selbst eher ein Zerrbild dessen war, woran sie sich erinnerte; die Häuser waren winzig und verfallen, und die wenigen Vorgärten waren hoffnungslos verwildert. Hinter keinem einzigen Fenster brannte Licht, obwohl es noch nicht einmal besonders spät war.