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Endlich wurde der Wagen langsamer, rumpelte noch einmal so unsanft über ein Hindernis, dass Leonie um ein Haar mit dem Kopf gegen die Decke geprallt wäre, und hielt dann mit einem so harten Ruck, dass sie auf den glatten Lederpolstern den Halt verlor und nach vorne rutschte. Gedankenschnell streckte sie die Hand aus, bekam den Türgriff zu fassen und nutzte den Schwung ihrer eigenen Bewegung, um die Tür aufzureißen und sich gleichzeitig nach außen zu schwingen. Ihre Großmutter kletterte auf der anderen Seite deutlich langsamer aus dem Wagen, und auch Maus und die anderen stiegen mehr oder weniger umständlich von dem antiquierten Gefährt herunter.

Leonie stand einfach nur da und starrte das Haus aus ungläubig aufgerissenen Augen an.

Nach dem, was sie auf dem Weg hierher gesehen hatte, hätte sie eigentlich gewarnt sein müssen, und trotzdem traf sie der Anblick wie ein Schlag ins Gesicht.

Das Haus, vor dem sie angehalten hatten, hatte nur noch grobe Ähnlichkeit mit dem Gebäude, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Die äußerliche Form war möglicherweise gleich, aber das war dann auch schon alles. Die meisten Fenster hatten kein Glas mehr. Überall bröckelte der Putz von den Wänden und das Dach war an mehreren Stellen eingesunken. Die Fenster des Anbaus waren mit Brettern vernagelt, Papierfetzen, trockenes Laub und Unrat hatten sich in Winkeln und Nischen eingenistet, und der Wind spielte klappernd mit den morschen Fensterläden. Hinter der offen stehenden Haustür brannte Licht, aber es war nur ein trüber, flackernder Schein, der die Dunkelheit, die von dem Haus Besitz ergriffen hatte, nur noch zu betonen schien.

»Wir können es ungeschehen machen«, sagte Großmutter mit leiser, mitfühlender Stimme. Sie berührte Leonie sanft an der Schulter und versuchte aufmunternd zu lächeln, aber es misslang. »Aber du musst mir dabei helfen. Und du auch, mein junger Freund. Kommt!«

Die letzten Worte hatten Maus gegolten, der sie reichlich irritiert ansah, ihr aber dennoch widerspruchslos folgte, als sie mit trippelnden kleinen Schritten auf die offen stehende Tür zuging. Auch Wohlgemut, Gutfried und selbst der Scriptor schlossen sich ihnen an, beinahe wie um sie abzuschirmen. Als sie die kurze, aus nur drei Stufen bestehende Treppe zur Tür hinaufgingen, drehte sich Leonie noch einmal um und sah die Straße zurück.

Der Archivar hatte sie fast erreicht. Vielleicht blieb ihnen noch eine Minute, wahrscheinlich aber noch nicht einmal das. Sie begannen zu rennen.

Drinnen im Haus wurde es nicht besser, sondern schlimmer. Das Licht, das sie von außen gesehen hatten, stammte von einer Hand voll dicker roter Wachskerzen, die auf den Treppenstufen und dem Geländer aufgereiht waren. Falls es in diesem Haus jemals elektrischen Strom gegeben hatte, dann musste es Jahre her sein, denn dort, wo die Kerzen standen, hatten sich bizarre Gebilde aus geschmolzenem Wachs gebildet, die über lange Zeit hinweg zu Boden getropft waren, und Decke und Wände waren voller schwarzem, schmierigem Ruß. Das Licht reichte nicht wirklich aus, um Einzelheiten zu erkennen, aber Leonie war fast froh darüber, denn das wenige, was sie sehen konnte, war schon eindeutig mehr, als sie eigentlich sehen wollte. Die Tapeten waren so alt, dass sie überall gerissen waren und sich an zahllosen Stellen von den Wänden zu lösen begannen und ihr Muster unter dem Schmutz der Jahre kaum noch zu erahnen war. Die Türen hingen schief in den Angeln und der ehemals sorgsam gepflegte Parkettboden war aufgequollen und überall gerissen. Ein schwer definierbarer, aber ebenso durchdringender wie unangenehmer Geruch hing in der Luft, und aus dem Obergeschoss drang das Klappern eines losen Fensterladens herab, den der Wind in nahezu regelmäßigem Takt aufriss und wieder gegen die Wand schmetterte.

Etwas an diesem Geräusch schien Großmutter über die Maßen zu irritieren, denn sie blieb mitten in der Bewegung stehen und legte den Kopf in den Nacken, um mit eng zusammengekniffenen Augen nach oben zu sehen, und auch Maus blickte verwirrt in die gleiche Richtung.

Dann geschah etwas Seltsames: Wie auf ein geheimes Zeichen hin drehten sich die beiden um und sahen sich auf eine Weise an, die Leonie einen eisigen Schauer über den Rücken jagte.

»Was ist los?«, fragte sie alarmiert.

»Nichts«, antwortete Großmutter hastig. »Komm weiter.«

Wäre die Situation auch nur ein bisschen weniger unheimlich gewesen, hätte sich Leonie mit dieser Antwort ganz bestimmt nicht zufrieden gegeben. Aber ihre Großmutter hatte Recht: Es war vollkommen egal, wer oder was dort oben war. In spätestens einer Minute würde der Archivar hier sein, und dann war alles andere gleichgültig.

Zumindest der Grundriss des Hauses war gleich geblieben. Sie gingen den langen Korridor entlang zum Arbeitszimmer ihres Vaters, dessen Tür nun eine zwar massive, dennoch aber ganz normale Zimmertür war; so weit man eine Zimmertür mit gleich drei Schlössern und zwei wuchtigen Riegeln als normal bezeichnen konnte, hieß das. Dennoch war Leonie zutiefst erleichtert. Hätte es hier noch dieses Monstrum von Sicherheitstür gegeben, das sie das letzte Mal gesehen hatte, als sie hier gewesen war, so hätten sie vermutlich keine Chance gehabt, sie aufzubekommen, nicht in einer Stunde, und schon gar nicht in der knappen Minute, die ihnen allerhöchstens noch blieb.

Als sie noch drei Schritte von der Tür entfernt waren, wurde sie von innen geöffnet und Frank trat heraus. Er trug eine großkalibrige Pistole in der einen Hand und ein riesiges Schrotgewehr unter dem anderen Arm.

Leonie keuchte erschrocken und auch ihre Großmutter sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein.

»Keine Angst«, sagte Frank rasch. »Ich stehe auf eurer Seite.«

»Fragt sich nur, welche Seite unsere Seite ist«, antwortete Großmutter. »Und was Sie dafür halten, junger Mann.«

Frank wollte antworten, aber Vater Gutfried kam ihm zuvor. »Nicht«, sagte er hastig. »Er sagt die Wahrheit.«

Leonie blickte unschlüssig von ihm zu Frank und wieder zurück. Gutfried und Frank sahen sich auf sonderbare Weise an, und plötzlich und zum ersten Mal, aber vollkommen jenseits allen Zweifels, fiel ihr auf, wie frappierend ähnlich sich die beiden Männer waren, sah man einmal von dem Altersunterschied und der grundverschiedenen Haartracht ab. Wo Wohlgemut und Gutfried Brüder sein konnten, wären Frank und er ohne Probleme als Vater und Sohn durchgegangen, oder auch als Großvater und Enkel. Über ein Übermaß an Fantasie schien sich der Archivar tatsächlich nicht beklagen zu können.

Eines der Pferde draußen vor dem Haus stieß ein erschrockenes Wiehern aus, und in der nächsten Sekunde hörte Leonie, wie die Kutsche mit gewaltigem Getöse davonfuhr, als die beiden Zugpferde gemeinsam durchgingen. Erschrocken drehte sie den Kopf und sah eine düstere Gestalt in einem schwarzen Kapuzenmantel auf die Tür zukommen.

»Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als Ihnen zu vertrauen«, sagte Wohlgemut. »Los.«

Frank wich mit einem raschen Schritt wieder durch die Tür zurück und wartete, bis sie an ihm vorbeigegangen waren. Leonie erwartete, dass er sie nun schließen würde, aber stattdessen hob er sein Gewehr und gab einen einzelnen Schuss auf den Archivar ab. Die Explosion war so laut, dass Leonie das Gefühl hatte, ihre Trommelfelle würden platzen. Automatisch schlug sie die Hände auf die Ohren, aber sie sah trotzdem, wie der Archivar für einen Moment im Schritt stockte - wenn auch vermutlich nicht, weil ihn die Schrotladung in irgendeiner Form verletzt hätte; die im Übrigen glatt durch ihn hindurchzugehen schien, denn Leonie sah, wie der altersschwache Türrahmen hinter ihm samt eines Teils der Wand einfach in Fetzen gerissen wurde.

Frank knallte die Tür zu und legte rasch hintereinander die massiven Eisenriegel vor, von denen es auch auf der Innenseite gleich drei Stück gab. »Nur um die Fronten zu klären«, sagte er grimmig.