Großmutter schüttelte den Kopf, enthielt sich aber jeglichen Kommentars und wandte sich stattdessen mit einer entsprechenden Geste an Maus. »Leonie hat mir erzählt, du wärst stolz darauf, dass es kein Schloss auf der Welt gibt, das du nicht aufbekommst. Stimmt das?«
Maus nickte heftig und Großmutter deutete auf den uralten Tresor, der in der Ecke neben der Tür stand, und sagte: »Dann hast du jetzt Gelegenheit, es zu beweisen.«
Maus drehte sich siegessicher zum Tresor um - und sein Lächeln entgleiste zu einer Grimasse, als er sich dem Safe gegenübersah, an dem er schon einmal gescheitert war. Wie alles hier drinnen hatte auch er sich zurückverwandelt und war jetzt wieder der ganz normale, betagte Geldschrank, nicht mehr das nahezu bombensichere Monstrum mit Handabdruck-Scanner und allem anderen hochmodernen Schnickschnack, an dem selbst der König aller Safeknacker gescheitert wäre.
Was nichts daran änderte, dass Maus ganz offenbar in seinem ganzen Leben noch nie ein Zahlenschloss gesehen hatte.
»Aber da... da ist ja gar kein Schloss«, sagte er hilflos.
Ein dumpfer Schlag traf die Tür. Einer der eisernen Riegel flog einfach davon, aus einem zweiten löste sich der größte Teil der Schrauben und regnete klirrend zu Boden. Wohlgemut und Vater Gutfried stellten sich schützend vor Großmutter und Frank hob sein Gewehr.
»Es ist im Grunde ganz einfach«, erklärte Leonie hastig. »Du musst nur an dem kleinen Rad drehen und die richtigen Zahlen eingeben, dann geht das Schloss auf.«
Maus sah sie noch einen Moment lang fragend an, aber dann ließ er sich vor dem Safe in die Hocke sinken und begann mit fliegenden Fingern an dem kleinen Zahlenfeld zu drehen. Obwohl er in seinem ganzen Leben bestimmt noch keinen Kriminalfilm gesehen hatte, legte er in perfekter Safeknacker-Manier das Ohr gegen die schwere Stahltür und lauschte, während er das Rädchen behutsam drehte. Ein leises Klicken erscholl, dann noch eines und noch eines, und plötzlich stieß er einen kleinen, triumphierenden Schrei aus und zog die schwere Eisentür nach außen auf.
Praktisch im gleichen Sekundenbruchteil flog die Zimmertür nach innen und der Archivar stand wie hingezaubert unter der Öffnung.
Frank feuerte sein Schrotgewehr ab. Diesmal konnte Leonie sehen, wie die Schrotladung einfach durch den Archivar hindurchging, ohne auf den geringsten Widerstand zu treffen, und ein Stück des Treppengeländers hinter ihm pulverisierte. Der Archivar machte eine rasche Handbewegung, und das Gewehr wurde Frank aus den Fingern gerissen und prallte mit solcher Wucht gegen die Wand, dass sich noch ein zweiter Schuss löste und es in Stücke brach. Frank versuchte seine Pistole zu ziehen, und der Archivar machte eine zweite, wütendere Handbewegung, und Frank flog quer durch den Raum und prallte mit kaum geringerer Wucht gegen die Wand. Er brach zusammen und blieb reglos und mit geschlossenen Augen liegen.
Maus riss das schwere ledergebundene Buch aus dem Safe, fuhr herum und machte einen Schritt, um es Großmutter zu bringen, und der Archivar trat vollends ein und streckte die Hand aus, um nach dem Jungen zu greifen. Ganz zweifellos hätte er ihn auch erwischt, wäre da nicht plötzlich ein zweiter, kaum weniger großer Schatten gewesen, der an Maus vorbeistürmte und den Archivar mit seinem wütenden Kreischen ansprang. Alles ging so schnell, dass Leonie nicht einmal wirklich begriff, was sie sah, bevor es auch schon wieder vorüber war.
Dennoch tat der selbstmörderische Angriff des Scriptors seine Wirkung. Leonie beobachtete voller Entsetzen, wie der Archivar unter dem Anprall des Geschöpfes, das er selbst erschaffen hatte, zwar tatsächlich einen Schritt weit zurücktaumelte, dann aber die Arme hob und den Scriptor regelrecht in Stücke riss. Der winzige Augenblick aber, den das unheimliche Geschöpf abgelenkt war, reichte aus. Maus war mit einem Satz bei Großmutter, warf ihr das Buch zu und sank dann mit einem qualvollen Stöhnen auf die Knie, als der Archivar eine zornige Handbewegung in seine Richtung machte. Leonie konnte gerade noch rechtzeitig hinzuspringen um ihn aufzufangen, als er bewusstlos zur Seite kippte.
Der Archivar schleuderte die Überreste des Scriptors zu Boden und stampfte mit einem wütenden Schritt auf Großmutter zu. Leonie versuchte ihn anzugreifen, aber sie kam nicht einmal in seine Nähe. Der Archivar wiederholte seine zornige Handbewegung und Leonie hatte das Gefühl, von einem unsichtbaren Vorschlaghammer getroffen und quer durch den Raum geschleudert zu werden.
Hilflos taumelte sie an Gutfried, ihrer Großmutter und Professor Wohlgemut vorbei und prallte mit dem Rücken gegen die Tischkante, wo sie wimmernd zusammenbrach. Sie hatte plötzlich Mühe, überhaupt noch klar zu sehen. Alles drehte sich um sie, ihr Rücken schien in reinem weißem Schmerz zu explodieren und die Gestalten Großmutters und ihrer beiden letzten übrig gebliebenen Verbündeten begannen vor ihren Augen zu verschwimmen. Aber nichts davon spielte eine Rolle. Es kam einzig und allein darauf an, Großmutter Zeit zu verschaffen, das Buch aufzuschlagen und die passende Seite zu finden.
Vater Gutfried schien das wohl ebenso zu sehen, denn plötzlich fuhr auch er herum und trat dem Archivar hoch aufgerichtet und ohne das mindeste Anzeichen von Furcht entgegen.
Und etwas sehr Seltsames geschah: Statt ihn einfach mit einer wütenden Handbewegung aus dem Weg zu fegen, blieb der Archivar stehen und sah den greisen Geistlichen aus seinen unsichtbaren, schrecklichen Augen an. Du also auch, dröhnte seine lautlose Stimme. Du weißt, was mit Verrätern geschieht.
»Ich habe keine Angst vor dir«, antwortete Gutfried. »Jetzt nicht mehr. Keiner von uns fürchtet dich noch.«
Dann seid ihr noch größere Narren, als ich dachte, erwiderte der Archivar.
»Wir sind genau das, wozu du uns gemacht hast«, erklärte Gutfried. »Aber keiner von uns will noch länger dein Werkzeug sein!«
Genug, donnerte der Archivar. Er fegte Gutfried mit einer fast beiläufigen Geste zur Seite, und nun war es an Wohlgemut, ihm in den Weg zu treten. Nach dem, was er gerade gesehen hatte, musste ihm vollkommen klar sein, wie sinnlos sein Tun war, und dennoch trat er dem Archivar ebenso ruhig und ohne Angst entgegen wie Bruder Gutfried gerade.
Großmutter hatte aufgehört, mit fliegenden Fingern im Buch ihres eigenen Lebens zu blättern, und kramte einen altmodischen schwarzen Füllfederhalter hervor.
Geh aus dem Weg, donnerte der Archivar.
Wohlgemut schüttelte ruhig den Kopf. »Niemals.«
Ganz wie du willst. Der Archivar fegte ihn beiseite, machte einen Schritt und beugte sich vor, um die Hand nach Großmutter auszustrecken, und Leonie schrie gellend auf und warf sich mit dem Mut purer Verzweiflung zum zweiten Mal auf ihn. Ihre Großmutter hatte mittlerweile die Kappe des Füllers abgeschraubt und setzte die Feder an.
Der Kopf des Archivars flog mit einem Ruck in den Nacken. Seine Hand kam in einer zornigen Bewegung hoch, doch dieses Mal waren selbst seine übermenschlich schnellen Reaktionen zu langsam. Leonie spürte, wie dieselbe unsichtbare Macht, die Wohlgemut und die anderen niedergestreckt hatte, dicht an ihr vorüberraste und mit solcher Gewalt den Tisch traf, gegen den sie gerade gestürzt war, dass das altersschwache Möbel regelrecht pulverisiert wurde, dann prallte sie mit weit vorgestreckten Armen gegen den Herrn des Archivs.
Ebenso gut hätte sie versuchen können, den Tresor mit bloßen Händen aus der Wand zu reißen. Die unheimliche Kreatur wankte nicht einmal - und sie machte sich auch nicht die Mühe, ihre dämonischen Kräfte ein zweites Mal gegen sie einzusetzen. Stattdessen versetzte sie Leonie einen fast beiläufigen Hieb mit der flachen Hand, der sie zurücktaumeln und halb bewusstlos zusammenbrechen ließ. Unmittelbar neben ihrer Großmutter blieb sie liegen. Wie durch einen immer dichter werdenden Schleier sah sie, wie Großmutter die Feder ansetzte und zu schreiben begann und...