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Der Archivar machte eine weitere Handbewegung. Großmutter schrie auf und krümmte sich wie unter einem Hieb. Das Buch wurde ihr aus den Händen gerissen und schlitterte davon, der Federhalter prallte klirrend auf den Boden und rollte zielsicher in Leonies ausgestreckte Hand.

Mein Kompliment, alte Freundin, sagte der Archivar. Ich gebe zu, dass ich dich zum zweiten Mal unterschätzt habe. Fast hättest du mich abermals besiegt. Aber nun ist es vorbei. Gib auf.

Großmutter krümmte sich noch immer wie unter Schmerzen.

Stöhnend drehte sie sich auf die Seite und ihr Blick suchte den Leonies.

»Es ist niemals vorbei«, keuchte sie. »Selbst wenn du mich umbringst, wird eine andere kommen, die dich aufhält. Irgendwann. Die Welt, die du erschaffen willst, kann keinen Bestand haben.«

Die Worte galten dem Archivar, aber ihr Blick hielt Leonies Augen unverrückbar fest. Ein so verzweifeltes Flehen stand darin geschrieben, dass Leonie an sich halten musste, um nicht laut aufzustöhnen, aber das durfte sie nicht, denn sie hatte ganz plötzlich begriffen, was es war, was Großmutter von ihr verlangte. Auch ihre Worte hatten keinen anderen Sinn als den, um dessentwillen sich schon Frank, Wohlgemut und Gutfried und selbst der Scriptor geopfert hatten: ihr Zeit zu verschaffen. Das Buch lag nur ein kleines Stück neben ihr, praktisch zum Greifen nahe, und sie musste wortwörtlich nur die Finger schließen, um den Stift zu ergreifen.

Aber es ist niemand mehr da, der mich aufhalten könnte, antwortete der Archivar. Verstehst du denn nicht? Du bist die Letzte, die die Macht dazu gehabt hätte.

Leonie schloss die Hand um den Füllfederhalter und drehte sich zugleich behutsam auf die Seite. Ihr Herz machte einen erschrockenen Sprung, als sie sah, dass das Buch nicht mehr aufgeschlagen war.

»Irgendwann wird jemand kommen, der dich besiegt«, fuhr Großmutter fort. Leonie drehte sich unendlich behutsam herum, streckte die Hand nach dem Buch aus und zog es zu sich heran. »Jemand, der klüger ist als ich.«

Du hast dich nicht verändert, alte Freundin, antwortete der Archivar. In all den Jahren nicht. Sei vernünftig. Kommt auf meine Seite. Du und deine Enkelin. Euch wird nichts geschehen.

»Niemals«, erwiderte Großmutter. Leonie hatte das Buch mittlerweile endgültig zu sich herangezogen, aber sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte. Ein Moment, viele Jahre vor ihrer Geburt! Wie sollte sie wissen, wovon ihre Großmutter überhaupt gesprochen hatte! »Lieber sterbe ich!«

Ich würde es bedauern, dazu gezwungen zu sein, meinte der Archivar. Aber es ist deine Entscheidung.

Leonie schlug das Buch auf. Das uralte, trockene Pergament knisterte, als sie die ersten Seiten umschlug, und so leise das Geräusch auch war, es entging der unheimlichen Kreatur nicht.

Der Archivar sah mit einem Ruck auf, und Leonie konnte die jähe Wut, die urplötzlich in dem grausamen Geschöpf aufflammte, fast körperlich spüren. Der Archivar streckte die Hand in ihre Richtung aus.

»Jetzt!«, schrie Großmutter. Plötzlich wirkte sie alles andere als kraftlos und schwach, sondern bäumte sich auf, krallte die Hände in den schwarzen Umhang des Archivars und zerrte ihn zu sich herab.

»Schnell, Leonie!«, schrie sie. »Eine Minute! Länger kann ich ihn nicht halten!«

Leonie verschenkte drei oder vier der ihr verbleibenden kostbaren sechzig Sekunden damit, ihre Großmutter nur entsetzt anzustarren, dann aber fuhr sie herum und begann mit fliegenden Fingern in dem Buch zu blättern. Was sollte sie nur tun? Sie konnte unmöglich erraten, von welchem Moment in ihrer Vergangenheit Großmutter gesprochen hatte, nicht in einem Buch, in dem die Erinnerungen eines ganzen Lebens aufgeschrieben waren!

»Schnell, Leonie«, schrie Großmutter. »Ich kann ihn nicht mehr halten!«

Aber was sollte sie denn nur tun? Sie wusste doch nicht, wovon ihre Großmutter überhaupt sprach, und sie konnte doch unmöglich...

Hinter ihr erscholl ein markerschütterndes Brüllen, als der Archivar all seine ungeheuren Kräfte entfesselte, um den Griff ihrer Großmutter zu sprengen, und dann...

... wusste Leonie, was sie zu tun hatte.

Mit fliegenden Fingern blätterte sie um, fand die richtige Seite und begann zu schreiben...

Willkommen in der Wirklichkeit

»Hier?« Irgendwie hatte Leonie das Kunststück fertig gebracht, ihren Gesichtsausdruck auf ein bloßes missbilligendes Stirnrunzeln zu reduzieren - das ihre Großmutter wahrscheinlich nicht einmal bemerkte, denn sie stand seit einer geschlagenen Minute da, starrte auf die Fassade des altehrwürdigen Gebäudes, und auf ihrem Gesicht hatte sich ein Ausdruck ausgebreitet, den Leonie nur noch als Verzückung bezeichnen konnte; auch wenn sie diese Begeisterung beim besten Willen nicht verstand. Was sie anging, erfüllte sie der Anblick mit einem Gefühl, das verdächtig nahe an blankes Entsetzen heranreichte.

Leonie räusperte sich. »Hier?«, fragte sie wieder, und diesmal gelang es ihr nicht nur, die Frage mit vollkommen ausdrucksloser Miene zu stellen, sondern sogar den leicht hysterischen Unterton aus ihrer Stimme zu verbannen.

Nicht dass es irgendeinen Unterschied gemacht hätte. Leonie war - zu Recht - stolz auf ihre schauspielerische Leistung, die Großmutter aber gar nicht zur Kenntnis nahm. Sie stand immer noch wie zur Salzsäule erstarrt da, blickte auf die gewaltige Sandsteinfassade dieses jahrhundertealten Monstrums von Haus und schien alle Mühe zu haben, nicht vor lauter Begeisterung die Fassung zu verlieren.

Und zumindest das, dachte Leonie mit einer Mischung aus Resignation und immer noch schwelendem Entsetzen, war etwas, das sie im Moment durchaus gemeinsam hatten: Auch sie selbst stand kurz davor, die Fassung zu verlieren und möglicherweise etwas sehr Dummes zu tun.

Wenn auch aus vollkommen anderen Gründen...

Sie war schon mit einem unguten Gefühl aufgestanden und daran hatte sich seither nichts geändert. Ganz im Gegenteil. Der bloße Anblick dieses Monstrums aus Sandstein und barock erstarrter Zeit flößte ihr Unbehagen ein. Leonie hielt von Vorahnungen ungefähr ebenso viel wie von alter Architektur - aber Tatsache war, dass ihr dieses Gebäude nicht nur Unbehagen einflößte, sondern ihr das intensive Gefühl einer drohenden Gefahr vermittelte. Vielleicht war es besser, dort nicht hineinzugehen...

Unsinn. Leonie hob die Hand, um die juckende Stelle am Kinn zu kratzen, und ließ den Arm dann wieder sinken, ohne die Bewegung zu Ende geführt zu haben. Die Stelle, wo sie das Piercing am Morgen entfernt hatte, juckte nicht nur wie wild, sie tat auch verteufelt weh - und sie war keineswegs sicher, ob sie den kleinen Chromstift so ohne weiteres wieder einsetzen konnte. Und das Allerschlimmste war: Großmutter wusste das Opfer, das Leonie für sie gebracht hatte, nicht einmal zu würdigen.

»Ja, ja, hier«, sagte Großmutter plötzlich. Leonie blinzelte und brauchte ein paar Augenblicke um zu begreifen, dass das die Antwort auf die Frage war, die sie vor einer guten Minute - zweimal! - gestellt hatte. Anscheinend schlug der Anblick des gewaltigen Bibliotheksgebäudes die alte Frau so sehr in seinen Bann, dass sie sich nur mit Mühe auf das konzentrieren konnte, was um sie herum vorging. »Damit hast du nicht gerechnet, wie? Die Überraschung ist mir gelungen, nicht wahr? Sag schon.«

Leonie schluckte ein paarmal, nicht nur um den bitteren Speichel loszuwerden, der sich immer wieder dort sammelte, wo vor ein paar Stunden noch das Piercing gewesen war, sondern vor allem um nicht auszusprechen, was ihr wirklich auf der Zunge lag. Sie lächelte gequält. »Stimmt«, antwortete sie. »Damit habe ich wirklich nicht gerechnet.«

Das war nicht einmal gelogen.