Großmutters Gesicht hellte sich auf. Mit deutlicher Anstrengung riss sie sich vom Anblick des riesigen Gebäudes los und wandte sich Leonie zu. Ihre Augen schienen von innen heraus zu leuchten, als sie zu ihrer Enkelin hochsah - und das im buchstäblichen Sinne des Wortes. Leonie - fünfzehn, sportlich, eine gute Schülerin und (nach eigener Einschätzung) verdammt gut aussehend - war alles andere als hoch gewachsen, aber ihre Großmutter reichte ihr trotzdem nur bis zum Kinn.
»Und das Beste kommt erst noch!«, sagte Großmutter. »Die eigentliche Überraschung steht dir erst noch bevor. Warts nur ab!«
»So, so«, machte Leonie. Sie lächelte - wenigstens hoffte sie, dass ihre Großmutter das gequälte Verziehen der Lippen, zu dem sie sich durchrang, als Lächeln auffassen würde. Ein Lächeln, das ihr umso schwerer fiel, als das unheimliche Gefühl, das dieses Gebäude in ihr erzeugte, mit jedem Moment stärker wurde.
»Du wirst sehen«, versprach Großmutter nochmals. »Komm!« Sie ging los und Leonie erlebte eine weitere Überraschung. Sie kannte ihre Großmutter als zwar agile, aber dennoch alte Frau, die sich eher vorsichtig bewegte, um nicht zu sagen: betulich. Jetzt aber eilte sie mit kleinen, trippelnden Schritten so schnell voraus, dass Leonie im ersten Moment Mühe hatte, überhaupt mitzukommen, als gäbe ihr der Anblick des uralten Gemäuers etwas von der Kraft zurück, die ihr die vielen Jahrzehnte abverlangt hatten, die auf ihren schmalen Schultern lasteten.
Leonie runzelte die Stirn, ein wenig verwundert über ihre eigenen Gedanken. Trotzdem beeilte sie sich weiterzugehen, um mit ihrer Großmutter Schritt zu halten. Auf der Mitte der breiten Freitreppe, die zu dem beeindruckenden, von mehr als mannshohen steinernen Säulen flankierten Eingang des Bibliotheksgebäudes hinaufführte, holte sie sie ein, konnte aber trotzdem nicht wirklich langsamer werden. Ihre Großmutter legte ein Tempo vor, das sie immer mehr in Erstaunen versetzte. Noch vor einer knappen Stunde, als sie in den Bus gestiegen waren, hatte Großmutter ihre liebe Not gehabt, die beiden Stufen hinaufzukommen, jetzt schien sie mit jedem Schritt, den sie sich dem Eingang näherten, an Kraft und Schnelligkeit zu gewinnen.
Vielleicht war es ja die Kraft der Erinnerung, überlegte Leonie. Sie selbst hatte mit Büchern nie viel am Hut gehabt - wozu auch in einer Welt, in der es Fernseher, Notebooks, Gameboys, Walkmans und MP3-Player gab? -, aber Großmutter war zeit ihres Lebens von Büchern umgeben gewesen. Sie hatte (großer Gott: vor mehr als sechzig Jahren!) eine Lehre als Buchhändlerin abgeschlossen und niemals in einem anderen Beruf gearbeitet. Die kleine Buchhandlung am Stadtrand, von der Leonies Eltern lebten und die sie eines Tages übernehmen sollte, hatte sie vor nahezu einem halben Jahrhundert gegründet, und obwohl sie mittlerweile die achtzig weit überschritten hatte, stand sie auch jetzt noch dann und wann im Laden; und sei es nur, um ein Schwätzchen mit einem Kunden zu halten.
Wobei sie beim Thema waren, dachte Leonie mit einem lautlosen, aber inbrünstigen Seufzer. Natürlich war ihr vollkommen klar, was der wirkliche Grund für das immer stärker werdende Gefühl von Unbehagen war, das das uralte Bibliotheksgebäude in ihr erzeugte. Buchhändler. Ihre Eltern erwarteten allen Ernstes, dass sie eine Lehre als Buchhändlerin machte und den elterlichen Laden übernahm! Dass ihre Großmutter, die eine alte Frau war und mehr in der Vergangenheit lebte als in der Gegenwart, davon träumte, dass sie als ihre einzige Enkelin den Familienbetrieb in der dritten Generation weiterführte, das konnte Leonie ja noch halbwegs nachvollziehen. Aber ihre Eltern? Sie konnten doch nicht im Ernst annehmen, dass ein modernes, aufgeschlossenes junges Mädchen des einundzwanzigsten Jahrhunderts auch nur die Möglichkeit in Betracht zog, den Rest seines Lebens in einem muffigen, kleinen Laden zu verbringen, in den sich an manchen Tagen nur ein einziger Kunde verirrte und in dem es nichts anderes als Bücher gab! Noch dazu eine ganz besondere Art von Büchern. Nicht etwa spannende Thriller und Fantasy-Romane von Stephen King, Grisham oder Rowling, sondern uralte Schwarten - Goethe, Kleist, Shakespeare und der ganze Kram, der keinem anderen Zweck diente, als unschuldige Schüler damit zu quälen.
Nein, für Leonie stand fest, dass sie dieses großzügige Ansinnen ihrer Eltern ausschlagen würde. Auch wenn Mutters Augen bei der Nachricht ihres bevorstehenden Praktikums vor Freude geleuchtet hatten. Sie war überhaupt nur mit hierher gekommen, um ihrer Großmutter einen Gefallen zu tun. Selbst das bedauerte sie mittlerweile - spätestens seit dem Moment, in dem sie sich das Piercing aus der Unterlippe gezogen hatte und ihr dabei Tränen in die Augen geschossen waren -, aber nun war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen. Leonie seufzte erneut, und diesmal sogar hörbar. Na schön: Sie würde eben gute Miene zum bösen Spiel machen und den Rest dieses verlorenen Nachmittags auch noch durchstehen. Auch wenn sie beim besten Willen nicht wusste wie.
Als sie das Gebäude betraten, wurde das Gefühl einer drohenden Gefahr für einen Moment so übermächtig, dass Leonie all ihre Kraft aufwenden musste, um nicht auf dem Absatz herumzufahren und einfach davonzurennen. Außerdem wurde es spürbar kühler und Leonie sah überrascht hoch, als sie das Brummen einer Klimaanlage vernahm; nach der brütenden Sommerhitze draußen eine reine Wohltat, mit der sie in einem altehrwürdigen Gebäude wie diesem zu allerletzt gerechnet hätte.
Falsch, dachte sie fast hysterisch. Irgendetwas hier war vollkommen falsch.
Überhaupt sah es hier eigentlich nicht so aus, wie sie sich eine Jahrhunderte alte Bibliothek vorgestellt hatte. Der Raum erinnerte sie eher an das Foyer eines Mittelklassehotels aus den Fünfzigerjahren, nur dass er sehr viel größer war. Der Boden war mit schwarzweißen, hoffnungslos verkratzten Kacheln bedeckt und überall standen schmucklose, rechteckige Tische mit zerschrammten Resopalplatten und dazu passende billige Kunststoffstühle, die aussahen, als wären sie nur zu dem einzigen Zweck entworfen worden, möglichst unbequem zu sein; an zwei oder drei Tischen saßen sogar Leute, die in Büchern lasen oder in Zeitschriften blätterten, die meisten aber waren leer. Es roch auch nicht nach alten Büchern oder Staub, sondern nach Putzmittel. Die dem Eingang gegenüberliegende Wand bestand aus einer beeindruckenden Reihe deckenhoher Milchglastüren, bewacht von einem noch beeindruckenderen Tresen, der das Gefühl, sich in einem heruntergekommenen Hotel zu befinden, noch verstärkte. Ein grauhaariger Mann, der tatsächlich so etwas wie eine Livree trug, stand dahinter und wachte mit Argusaugen darüber, dass niemand die heilige Ruhe des Lesesaales störte.
Großmutter steuerte mit energischen Schritten auf diesen Tresen zu, was offensichtlich das Missfallen des Livreeträgers erweckte, denn auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, der mindestens so finster war wie Leonies Gedanken. Dann aber hellten sich seine Züge ganz plötzlich auf und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Aber das ist doch... Frau Kammer!«
Die beiden letzten Worte hatte er fast geschrien, jetzt kam er mit schnellen, weit ausgreifenden Schritten um seinen Tresen herum, eilte auf Großmutter zu und schloss sie so stürmisch in die Arme, dass er sie fast von den Füßen gerissen hätte.
Irgendetwas stimmte mit seiner Stimme nicht, dachte Leonie. Sie hörte sich... nicht wirklich an wie eine menschliche Stimme, eher wie das Kratzen einer uralten Schreibfeder auf noch älterem Pergament.
»Frau Kammer!«, rief er immer wieder. »Das ist ja eine Überraschung! Dass wir uns nach so langer Zeit noch einmal wiedersehen!« Plötzlich schien ihm sein eigenes Benehmen peinlich zu werden. Er ließ Großmutter los, trat fast hastig einen Schritt zurück und rang einen Moment lang unbehaglich die Hände. »Das... ist ja wirklich eine Überraschung«, wiederholte er und räusperte sich. »Womit kann ich Ihnen dienen, meine Gnädigste?«